Die Katastrophe
nein, bald war ein Vorwärtskommen nur kriechend möglich, was unglaubliche Kräfte kostete. Noch dazu musste sie vorsichtig sein, denn immer wieder stieß der Rucksack gegen die Decke und immer öfter rieselte Schotter auf ihre Köpfe. Und sie hatte das Gefühl, dass sie immerzu bergauf gingen.
Hatte zu Beginn einer der Jungs immer mal wieder einen lauten Fluch ausgestoßen, so hatten sowohl Anas warnendes »Psst« als auch ein seltsames knarrendes Geräusch dem ein Ende bereitet.
Katie blieb nur, die Schritte zu zählen und nicht zu denken. Das war die einzige Möglichkeit durchzuhalten. Einfach die Gedanken ausschalten. Aber je stärker Katie es versuchte, desto schwerer fiel ihr es. Immer wieder sah sie Julia vor sich, die in diesen schwarzen Tunnel losgestürmt war, ohne zu wissen, was sie erwartete, ohne eine Warnung, welches Risiko sie damit eingegangen war.
Und bald zählte Katie nicht mehr die Schritte, sondern wurde nur von einem Gedanken beherrscht – wo, verdammt noch mal, steckst du, Julia?
»Wo, verdammt noch mal, ist sie?«, hörte sie in demselben Augenblick David flüstern, der direkt vor ihr ging. »Wir müssten sie doch längst eingeholt haben.«
»Ich habe keine Ahnung«, gab sie leise zurück.
»Chris ist ein solcher Idiot.« David fügte noch etwas hinzu, das Katie nicht verstand.
»Ihr seid beide komplette Idioten«, zischte sie zurück. »Könnt ihr eure Grabenkämpfe nicht dann führen, wenn wir gemütlich im Grace sitzen und uns langweilen?«
Grabenkämpfe.
Das Geräusch, das sie nun stoppen ließ, klang genau danach. Ein Dröhnen rollte durch den Tunnel, direkt auf sie zu. Aber es war nicht länger das Donnern des Wassers, das immer schwächer geworden war, je weiter sie sich von der Höhle mit den Malereien entfernten.
Katie stieß gegen David, der stehen geblieben war. »Was ist los?«
»Keine Ahnung.«
Katie knipste das Licht ihrer Stirnlampe an.
Ana hob die Hand und bedeutete ihnen, still zu sein. Dann löste sie das Seil, das sie um sich geschlungen hatte, und ging auf die Knie. Paul, direkt hinter ihr, wollte ihr folgen, doch Ana schüttelte den Kopf und bewegte sich auf allen vieren vorwärts durch den Gang. Die Dunkelheit verschluckte ihre Gestalt schneller, als Katie es für möglich gehalten hätte.
Im selben Moment spürte sie, wie ihr das Atmen schwerer fiel, und dann begriff sie: Das war nicht allein die Dunkelheit! Die Luft war nichts als ein grauer Film!
Sie hob ihre Lampe und dann sah sie die Staubwolke, die sich auf sie zubewegte. Sie kam genau von vorn.
»Steinschlag!«
Katie hatte keine Ahnung, wer dieses Wort ausgesprochen hatte. Hatte überhaupt jemand es ausgesprochen? Aber was es bedeutete, war ihr im Bruchteil eines Augenblicks klar. Wie sie damals sofort verstanden hatte, was es bedeutete, als das Seil, an dem Sebastien gehangen hatte, plötzlich locker wurde. Irgendwo vor ihnen hatte sich Gestein gelöst und irgendwo dort vorne war...
»Julia!«
Nur ein Name. Nur ein Wort.
Ausgesprochen zur falschen Zeit. Am falschen Ort.
Nur ein Wort.
Es konnte nicht nur die Beziehung zwischen zwei Menschen zerstören, sondern eine ganze Welt zum Einsturz bringen. Ein einzelner Name, den David gellend laut rief.
Katie handelte, ohne nachzudenken. Sie streckte die Hand aus, presste sie fest auf Davids Mund und der verzweifelte Schrei ging in ein ersticktes Keuchen über. Dann zog sie ihn hinunter auf den Boden, bevor die Steine auf sie niederprasselten und sie das Gefühl hatte, sie würde für immer unter ihnen begraben.
Katies früheste Erinnerung war die an eine Mauer. Eine hohe Mauer aus grauen Steinen. Ein Garten. Blumen, deren süßlicher Duft Übelkeit verursachte. Und Stimmen. Stimmen von Frauen. Wenn sie es nicht besser wüsste, dann hätte sie bis heute diese Erinnerung als ein Singen im Gedächtnis behalten. Denn später, als ihre Eltern sie mit in die Oper schleppten, hatten stets die weiblichen Sopranstimmen genau diese Übelkeit hervorgerufen.
Vor Mauern hatte Katie sich früher nie gefürchtet. Mauern waren nur Grenzen, hinter denen das Abenteuer lag oder besser eine Welt, die etwas versprach. Was dieses Etwas war, hätte sie nicht beschreiben können, aber schon als Kind hatte sie für sich entschieden, dass es nicht wichtig war. Wichtig war nur, dass Mauern eine Grenze bildeten. Eine Grenze zum Fluss, an den sie nicht gehen durfte. Später die Grenze, hinter der die Straßen lagen, die dorthin führten, wohin sie nicht gehen durfte. Eine,
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