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Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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und stellte fest, dass er bis zur Decke reichte. Sie richtete sich auf, soweit es möglich war und dann begann sie, in gebückter Haltung einen Stein nach dem anderen wegzunehmen.
    Das alles erinnerte sie an dieses Geschicklichkeitsspiel, das sie oft mit Robert gespielt hatte, als sie Kinder gewesen waren. Der Name fiel ihr nicht ein. Aber das war ja auch scheißegal, das Spiel hatte ihr schon früher keinen Spaß gemacht und jetzt bedeutete es den totalen Horror. Erst baute man aus Holzquadern einen Turm zusammen, um dann abwechselnd einen Stein aus dem Turm zu lösen und diesen oben auf die Spitze zu setzen. Das Spiel endete, wenn der Turm einstürzte.
    Ein falscher Griff, eine unbedachte Bewegung und der Berg würde über ihr zusammenstürzen.
    Jenga, dachte sie.
    Dieses Scheißspiel hieß Jenga und wer, zum Teufel, hatte immer verloren?
    Sie. Julia.
    Sie nahm den nächsten Stein, doch dann hielt sie entmutigt inne. Erschöpft starrte sie auf den Steinhaufen vor sich in der Dunkelheit, dessen Ausmaße sie nicht sehen, sondern nur erahnen konnte.
    Und dann sah sie etwas aufblitzen. Als ob die Steine glitzerten. Zunächst verstand sie nicht, was es bedeutete.
    Dann begriff sie.
    Licht.
    Licht, das von der anderen Seite kam.
    Licht, das von oben durch einen Spalt drang.

18
    S ie hatten schon lange kein Geräusch mehr von der anderen Seite gehört. Ab und zu hustete einer von ihnen, die Luft wurde zunehmend stickiger.
    Katie hoffte.
    Sie hoffte mit jeder Faser ihres Herzens, dass Julia dort auf der anderen Seite war, sie das Licht sehen konnte, die Geräusche hörte, wenn sie die Steine bewegten, vorsichtig herauszogen und zur Seite legten.
    Man konnte gegen Benjamin sagen, was man wollte – er war nicht derjenige, dessen Arme schmerzten, dessen Hände Schwielen und Blasen bekamen, aber sein Rücken musste tierisch wehtun. Denn er hörte nicht auf, immer wieder mit der Taschenlampe Lichtzeichen zu geben.
    Irgendwann stellte sich von selbst ein Rhythmus ein. Ohne große Worte zu machen, wechselten sie einander ab. Wenn Katie nicht Steine herauszog, kniete sie weiter hinten und nahm sie entgegen. Dann wieder lehnte sie erschöpft an der Mauer und ihre Gedanken wurden zunehmend langsamer und automatischer.
    Wie lange sie so stillschweigend arbeiteten, konnte sie nicht sagen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, aber sie fühlte, wie die Minuten verrannen. Oder waren es Stunden?
    »Ich spüre meine Finger nicht mehr. Irgendwann muss doch mal ein Loch in diesem Steinhaufen auftauchen«, hörte sie Chris murmeln. »Ich habe das Gefühl, wir graben an der falschen Stelle.«
    »Hör einfach auf zu denken«, befahl Paul, blickte zurück und sagte: »Du bist wieder dran, Katie.«
    Katie rutschte nach vorne. Ihre Hose fühlte sich an wie ein alter Putzlappen – feucht und dreckig.
    Benjamins Taschenlampe zeigte auf die Stelle rechts oben, wo Paul zuletzt gearbeitet hatte.
    Die Körperhaltung, in der sie sich befand, war verdammt unbequem. Den Rücken gekrümmt, streckte sie den Arm weit nach oben.
    Denk nicht darüber nach.
    Schalte jeden Schmerz aus.
    Sie schloss kurz die Augen, konzentrierte sich und ihre Finger umklammerten einen Stein, dessen Kante sie gerade noch zu fassen bekam. Dann hörte sie ein dumpfes Geräusch. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schob die Hand noch weiter nach vorne, doch als sie den Stein mit den Fingerspitzen packen wollte, griff sie ins Leere und ihre Hand steckte in einem Loch.
    Scheiße, wo war der verdammte Brocken? Sie lehnte sich nach vorne und ihre Hand fand keinen festen Halt. Und dann – oder bildete sie sich das lediglich ein – spürte sie, wie ein Luftzug über ihren Handrücken strich. Und dann noch etwas! Eine Bewegung. Eine Berührung. Etwas Weiches strich über ihren Handrücken.
    Finger.
    Es waren eindeutig Finger, die sie fühlte.
    »Ich bin hier! Ich bin hier! Holt mich hier raus!« Sie hörten, wie Julia immer wieder dieselben Worte wiederholte.
    »Beruhige dich, Julia. Alles wird gut. Wir schaffen das. Es dauert nicht mehr lange.«
    Es war David, der diese Worte durch die schmale Lücke sprach, die Julia von ihnen trennte. Doch vielleicht hatte Julia seine Stimme nicht erkannt oder es war wirklich nicht David, mit dem sie sprechen wollte. Jedenfalls flüsterte sie die ganze Zeit nur einen Namen: »Chris, bitte! Bitte Chris. Hol mich hier raus!«
    Und David ließ sich einfach von Chris zur Seite schieben, obwohl er derjenige war, der ohne Pause durchgearbeitet

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