Die Katastrophe
die Knie presste, hatte sie abgewartet, bis der Steinhagel aufhörte.
Sie war nicht verletzt. Gott sei Dank! Einige Sekunden lang war sie wirklich beruhigt, fast schon euphorisch. Mann, das hätte ihr Tod sein können. Doch diese Euphorie hielt nur so lange an, bis ihr die anderen einfielen.
Das Licht der Stirnlampe war ausgegangen und sie konnte noch tausend Mal auf diesen verdammten Knopf drücken, sie funktionierte einfach nicht mehr.
Völlige Dunkelheit umgab sie. Eine schwarze Finsternis, die aus Staub bestand. Sie konnte nicht einmal die Hand vor ihren Augen erkennen und das würde sich auch so schnell nicht ändern. Ja selbst wenn es irgendwo dieses verfluchte Licht am Ende des Tunnels gab, hatte es keine Chance, diesen Staubnebel zu durchdringen. Und nun erst begriff sie, dass sie von den anderen völlig abgeschnitten war.
Oh Mann, sie war einfach losgestürmt, ohne nachzudenken. Wie hatte das ausgerechnet ihr passieren können? Sie hatte sich antrainiert, stets genau zu überlegen, was sie sagte, welchen nächsten Schritt sie unternahm. Das konnte in ihrem Fall überlebenswichtig sein.
Aber heute war sie durchgedreht. Vielleicht lag es an der ständigen Verdrängung; daran, dass sie ihre Vergangenheit leugnen musste, seit sie und Robert im Rahmen des Zeugenschutzprogramms eine neue Identität erhalten hatten. Aber die Kritzeleien in der Höhle waren zu viel gewesen. Und sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als einfach davonzulaufen.
Sie konnte nicht die Wahrheit sagen. Niemandem. Keiner wusste, dass der Name Mark de Vincenz, der auf dem Gedenkstein der acht verschollenen Studenten stand, der Name ihres ermordeten Vaters gewesen war.
Aber ihre Panikreaktion war ein entsetzlicher Fehler gewesen, das erlebte sie nun auf erschreckende Weise.
Dieser Tunnel, durch den sie gekrochen war, war der Horror schlechthin gewesen, der Supergau, aber sie hatte die Zähne zusammengebissen und war nicht umgedreht. Denn das hätte bedeutet, dass sie die Blicke der anderen hätte ertragen müssen. Chris, der ein Meister darin war, unter der Oberfläche zu bohren, sie mit seinen wechselhaften Stimmungen in die Tiefe zu ziehen. David, dessen sehnsüchtige Blicke in den letzten Wochen immer intensiver geworden waren.
Und so hatte sie das Dröhnen zu spät bemerkt. Fast gleich danach setzte der schwarze Staubregen ein – wie der Fallout nach einem Atomangriff. Er klebte überall an ihr. Und dann wieder dieses Geräusch, das sie zunehmend erstarren ließ. Fast schien es, als antworte der Berg auf ihr Rufen.
Julia hatte ab diesem Moment nicht mehr gewagt, sich zu bewegen oder einen Laut von sich zu geben. An die Wand unter den Vorsprung gepresst, blieb sie einfach sitzen, schloss die Augen und versuchte, sich in Gedanken irgendwohin zu beamen, wo die Luft nicht zum Ersticken war, wo die Feuchtigkeit nicht durch ihre Kleidung drang, der Rucksack nicht blaue Flecken auf ihrem Rücken verursachte.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war Julia Frost ein ganz normales Mädchen mit dem Namen Laura de Vincenz gewesen, dessen größtes Vergnügen es war, mit ihren Freunden in irgendwelchen Insidershops in Kreuzberg schräge Klamotten zu kaufen. Und das schlimmste Verbrechen, das sie je begangen hatte, war, im KaDeWe einen Lippenstift von Pure Color mit dem Namen Ku’damm zu klauen, den Karenina in ihrem Make-up-Tutorial auf YouTube empfohlen hatte.
Offenbar gab es einen Zustand, in dem ein Mensch völlig abdriften konnte und der vergleichbar war mit dem Erstarren eines Reptils in der Kälte, wenn Zeit und Ort keine Rolle mehr spielten und die Gedanken immer langsamer wurden, als ob die Batterien im Gehirn dabei waren, ihren Geist aufzugeben. Das war der Zustand, in den Julia verfiel, eine Art Stand-by, aus dem sie alarmiert hochfuhr, als sie irgendwo vor ihr ein Kratzen und Schaben hörte. Etwas daran sagte ihr, dass es sich nicht um ein Tier handelte. Wovon hätten sich Ratten hier unten ernähren sollen? Und es klang auch nicht danach, als ob sich erneut Steine aus den Felsen lösen würden.
Nein, es musste etwas anderes sein.
Die anderen?
Diesmal dachte Julia nach, bevor sie sich bewegte. Vorsichtig löste sie ihren Rucksack von den Schultern, den sie die ganze Zeit aufbehalten hatte und dann drehte sie sich auf allen vieren im Kreis. Immer wieder lauschte sie, versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung dieses Schaben und Kratzen kam. Systematisch und konzentriert tastete sie sich an dem Schutthaufen entlang
Weitere Kostenlose Bücher