Die Katastrophe
hatte.
»Sie soll nicht so viel reden. Und schon gar nicht anfangen zu schreien«, murmelte Ana. »Sag ihr das. Sie soll sich einfach still hinsetzen und die Klappe halten.«
»Gleich«, murmelte Chris. »Julia, bleib ganz ruhig. Ich bin gleich bei dir.«
»Ich halte es nicht länger aus! Hier ist es stockdunkel. Ich sehe nicht mal die Hand vor den Augen.« Julias Stimme hob sich.
»Julia, du darfst nicht so laut reden. Verstehst du, dieses Geröll kam nur aus der Decke, weil David herumgeschrien hat. Also sei einfach still, okay?«
Ein Stein nach dem anderen wurde zur Seite gelegt und das Loch langsam, aber stetig immer größer. Julia sagte nichts mehr, doch ab und zu drang ein Wimmern zu ihnen hinüber.
David richtete sich in halb gebückter Haltung auf. »Okay, das dürfte reichen«, sagte er. »Julia, hier ist meine Hand. Kannst du sie fühlen?«
»Ja.«
Katie konnte Julia kaum verstehen.
»Geh jetzt einige Schritte zurück. Ich habe Angst, dass der ganze Steinhaufen zusammenkracht.«
»Okay.«
»Lasst mich durch!« Chris machte einen Schritt nach vorne. Benjamins Stablampe leuchtete Julia ins Gesicht.
Sie kauerte am Boden und sah schrecklich aus. Tränenspuren durchzogen ihr Gesicht, das völlig schwarz war vom Staub. Katie handelte ganz spontan und tat etwas, das so außergewöhnlich war, dass sie von sich selbst ganz überrascht war. Bevor David, Chris oder einer der anderen noch reagieren konnte, war sie bereits durch die Steine auf der anderen Seite gekrochen und ließ sich neben Julia auf die Knie fallen. Sie nahm die Freundin in die Arme und ließ sie auch dann nicht mehr los, als Chris versuchte, sie zur Seite zu schieben.
Ich weiß, warum ich das tue, redete sie sich ein.
Ich habe einfach keine Lust, dass diese beiden liebeskranken Idioten erneut aufeinander losgehen. Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie sich etwas vormachte. Denn wenn sie ehrlich war, hatte Katie die ganze Zeit einfach nur verdammte Panik gehabt, sie könnte die einzige Freundin verlieren, die sie je in ihrem Leben gehabt hatte.
»Okay«, sagte Ana irgendwann und es war das erste Mal, dass ihre Stimme sanft klang. »Ich glaube, du kannst sie wieder loslassen. Oder hast du es plötzlich nicht mehr eilig?«
Es blieb keine Zeit, sich auszuruhen. Ana trieb sie an und die Bergführerin kannte keine Gnade. »Los doch! Es kann nicht mehr weit sein.«
»Ich glaube nicht, dass ich je wieder gerade gehen kann«, murmelte Benjamin vor Katie. »Ich werde immer und ewig als Glöckner von Notre-Dame durch die Welt laufen.«
Unterdrücktes Gelächter kam auf. Die Stimmung hatte so schnell umgeschlagen wie sonst nur das Wetter im Tal. Die Gereiztheit, die unterdrückte Anspannung und Nervosität hatten sich mit einem Schlag aufgelöst. Überhaupt – das Wetter. Katie hoffte inständig, dass draußen noch immer die Sonne schien. Und mit einem Mal wurde ihr etwas klar. Etwas, wovon sie schon oft gelesen, es aber nie erlebt hatte.
Als Einzelgängerin hatte sie nie begriffen, dass die Gefahren am Berg – das Wetter, die nachlassenden Kräfte, der falsche Weg, den man wählte – nur die eine Seite der Medaille waren. Die andere – das waren die Menschen, das Team. Wenn die versagten, dann konnte das vielleicht noch größere Gefahr bedeuten als eine Lawine.
Aber, hey, sie hatten diesen Albtraum gemeistert. Was konnte jetzt noch passieren?
Die Gruppe vor ihr geriet ins Stocken.
»Was ist jetzt schon wieder los?« Katie spähte ungeduldig durch das trübe Licht der Stirnlaternen.
Benjamin zuckte mit den Schultern.
Doch bevor er noch antwortete, begriff Katie zwei Dinge. Erstens, sie waren am Ende des Tunnels angelangt, und zweitens, sie hatte in den letzten Minuten ihre Klaustrophobie völlig vergessen.
Sie blinzelte nach vorn und versuchte, etwas zu erkennen.
Anders als beim Eingang zum Tunnel gab es hier keine Höhle oder einen größeren Raum. Stattdessen endete der Tunnel einfach an einer massiven Steinwand. Doch bevor ihre Ängste wieder zurückkehren konnten, erkannte Katie, dass Chris bereits dabei war, eine Leiter zurechtzustellen, die an einer Seite des Tunnels gelehnt hatte.
»Du zuerst?«, fragte Paul an Katie gewandt.
Katie nickte dankbar und griff nach der ersten Stufe. So schnell hatte sie noch nie eine Leiter erklommen und sie hätte die Welt umarmen können, als sie schließlich durch eine Fels-spalte ins Freie kroch.
»Von der Hölle aus direkt ins Paradies«, hörte sie Benjamin rufen, der hinter ihr
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