Die Katastrophe
Sturz, der nicht enden wollte. Als würde die wahre Zeit stillstehen.
Doch dann begriff sie, was geschehen war. Ihre Beine hingen frei in der Luft, ihr Körper war in der Mitte abgeknickt und ihr Brustkorb lag auf einer harten eiskalten Oberfläche. Ihre linke Wange schien im Gletschereis festgefroren.
Sie öffnete die Augen und starrte in ein helles Licht, das sie verwirrte.
Eine vage Erinnerung kroch in ihr hoch. Dumpfes Grollen. Das Schneebrett, das sich von der Wand löste. Die schmutzig weiße Wolke, die den Hang hinabdonnerte.
Es hatte eine Lawine gegeben. Aber nicht hier. Nicht am Ghost, sondern am Berg gegenüber. Sie bewegte den Kopf. Ihre Wange schrammte über das Eis und sie starrte in eine dunkelblaue Tiefe.
Die Gletscherspalte.
Ana.
Ana?
Ana musste in die Gletscherspalte gerutscht sein.
Weil sie, Katie, für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt gewesen war, sich nicht konzentriert hatte.
»Katie! Alles okay?« Pauls erschrockenes Gesicht erschien über ihr.
Als wäre er erst Luft und würde dann zum Menschen, dachte Katie. Es ist gruselig. Aber er ist immer da. Immer in meiner Nähe. Wie ein Schutzengel.
Schutzengel, Katie?
Du musst dein eigener Schutzengel sein.
»Was ist mit Ana?«
Paul ging nicht auf ihre Frage ein. »Du hast ein Riesen-glück gehabt, dass David so schnell reagiert hat. Er konnte dich gerade noch festhalten, kurz bevor du über die Kante gezogen wurdest.«
»Aber – Ana...« Katie versuchte, sich umzublicken.
Paul sah sie an und etwas Undefinierbares trat in seine goldgelben Augen. Ein Ausdruck, den sie nicht gleich verstand.
»Es war nicht deine Schuld, Katie. Das Seil – es ist einfach gerissen. Sie ist abgestürzt.«
Katie starrte ihn an. »Was soll das heißen, einfach gerissen?« »Es ist so, wie ich gesagt habe.«
Das Seil war einfach gerissen. Katie hörte auf zu atmen. Sekundenlang konnte sie keine Luft mehr holen.
»Katie? Katie?« Pauls Hand auf ihrer Schulter. Seine Augen, die ihren Blick suchten. Im nächsten Moment keuchte Katie, versuchte, so viel Sauerstoff wie möglich in ihre Lungen zu pumpen.
»Beruhige dich Katie. Atme ganz langsam. Ein. Aus. Und noch mal. Gut so.« Er rief etwas nach hinten, das sie nicht verstand. »Okay, wir ziehen dich jetzt hoch.«
Wieder dieselbe Frage, eigentlich nur ein Name, der zählte. »Ana?«
Er wich wieder aus.
»Es ging alles zu schnell, verstehst du, Katie? David hat dich gehalten und damit auch Ana, aber dann ist das Seil gerissen.«
»Wir müssen ihr helfen!«
»Erst einmal ziehen wir dich nach oben, dann kümmern wir uns um sie.«
Sie fühlte, wie ihr Oberkörper über die harte Eisfläche gezogen wurde und instinktiv wehrte sie sich.
»Ana?«
Sie beugte den Kopf über die Gletscherspalte. Dumpf wurde ihre Stimme von den Eiswänden wiedergegeben.
»Ana, kannst du mich hören?«
Keine Antwort.
Eher schien es Katie, als würden die steil aufragenden Eis-wände ein Dröhnen von sich geben. Nein, es war der Nachhall der Lawine, die noch nicht zur Ruhe gekommen war.
»Ana?«
Nur eine Sekunde gab die Natur Ruhe und da hörte sie es. Jämmerlich stieg es aus der Tiefe nach oben.
Katies Herz zog sich zusammen.
Es klang nicht nach Ana.
Es klang nach der puren Verzweiflung eines Menschen, der im eisigen Rachen der Spalte gefangen ist und keine Hoffnung mehr hat.
Und dann setzte abermals das Dröhnen ein, als die Lawine auf der gegenüberliegenden Seite in die Tiefe stürzte.
27
I ch gehe hinunter zu ihr.« Katie saß auf dem Eis und stieß David von sich, der sich besorgt über sie beugte.
»Du stehst unter Schock. Lass das jemand anderen machen.« Doch dieser anteilnehmende Unterton in seiner Stimme bewirkte genau das Gegenteil.
»Wer?«, fragte sie. »Wer kann das außer mir?«
»Ich. Ich habe eine Ausbildung zum Sanitäter.«
»Aber du hast keine Erfahrung mit dem Klettern. Und einer muss hier oben sein, auf den ich mich verlassen kann.«
»Ich kann da genauso gut runtergehen!« Das war Paul. Wenigstens kniete er nicht neben ihr. Noch mehr Mitleid würde sie jetzt nicht ertragen. »Und du kannst dich auf mich genauso wie auf David verlassen, Katie. Jederzeit.«
Konnte sie das?
Katie warf einen Blick auf die andere Seite der Gletscherspalte, wo Benjamin, Chris und Julia sich über den Abgrund beugten. In ihren Gesichtern stand der Schock geschrieben und einmal in seinem Leben hatte Benjamin den Anstand, die Kamera beiseitezulegen.
»Ich war für ihre Sicherung verantwortlich, also gehe
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