Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Katastrophe

Die Katastrophe

Titel: Die Katastrophe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
Vom Netzwerk:
für Sekunden den drei dick eingemummten Gestalten nach, die sich über das Eisfeld schnell entfernten.
    Sie war nicht zum ersten Mal mit Sebastien zur Arlington-Memorial-Brücke gefahren. Aber dieser Tag war ein besonderer gewesen. Der Abend vor Weihnachten.
    Katie hatte sich über das Geländer gelehnt und sie hatte gespürt, wie sich ihre Kehle zusammenzog bei dem Gedanken, darüberzusteigen und in die Tiefe zu springen. Ihre Gedanken hatten ständig zwischen »Ich spring auf jeden Fall« und »Nie im Leben werde ich das tun« geschwankt.
    »Ich kann das nicht«, hatte sie gesagt. »Nicht heute. Nicht in dieser Nacht. Ich habe ein seltsames Gefühl und es ist so scheißkalt.«
    »Hey Katie«, hatte er sanft gesagt und sie geküsst. »Es ist alles wie immer.«
    »Morgen ist Weihnachten.«
    »Eben. Und das ist unser Geschenk.«
    Sebastien hatte sich wie immer angeseilt. Er hatte den Helm aufgesetzt. Auch wie immer. Er war auf das Geländer geklettert und hatte die Arme ausgebreitet. Er hatte gebrüllt: »Frohe Weihnachten, Katie!« Und dann war er gesprungen und sie hatte gelacht und gelacht und... dann kam die Stille. Die große Stille. Katie hatte zuerst nicht gewusst, was so seltsam war, bis sie begriff. Sebastien hatte nicht wie sonst gesagt: »Heute ist der Tag, an dem wir sterben könnten!«
    »Was ist, Katie?« Eine Stimme riss sie aus der Erinnerung. Sie blickte hoch in Pauls Gesicht. »Soll ich nicht doch lieber gehen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Katie...«Er schaute sie eindringlich an. Nein, nicht eindringlich, eher als ob seine goldgelben Augen irgendeine Fähigkeit besaßen, sie festzuhalten, in die Tiefe zu blicken. Okay, Katie, du übertreibst. Aber sie konnte nicht anders, als seinen Blick zu erwidern. Gleichzeitig nahm sie die Worte auf, die er sagte:
    »Der Junge, von dem ich dir erzählt habe...«
    »Ja?«
    »Er hat dieses Mädchen umgebracht. Deswegen habe ich ihn getötet.«

    Katie verstaute Davids Erste-Hilfe-Set in der Jackentasche, schnallte den Helm unter dem Kinn fest und prüfte zum x-ten Mal das Sicherungsseil und den Knoten an ihrem Klettergurt mit der linken Hand. Dann ging sie einige Schritte zurück, bis sie die Kante erreicht hatte, und lehnte sich zurück ins Seil.
    Sie hatte sich für die Seite der Wand entschieden, auf der sie mit Paul und David stand. Soweit sie erkennen konnte, war der Abstieg von hier einfacher als auf der talwärts gelegenen Wand, wo das Eis ihr eher zerklüftet erschien.
    Langsam ließ sie die Beine über die Klippe hinunter, bis die Kante gegen ihren Magen drückte und sie unter ihren Steigeisen den Widerstand der Eiswand spürte. Sie lehnte sich zurück, und während das Seil sich spannte, senkte sie Brust und Schultern über die Kante hinunter.
    Magisch – das war ihr erster Gedanke, als sie in die Spalte abtauchte. Auf der gegenüberliegenden Wand schimmerte ein bizarres Gewirr aus gigantischen Eiszapfen und Vorsprüngen, fast wie in einer Tropfsteinhöhle. Und alles leuchtete im Licht der einfallenden Sonne in faszinierenden Blautönen.
    Doch dann schoss ihr durch den Kopf, wie trügerisch Schönheit sein konnte.
    Tödlich.
    Entschlossen hob sie den Fuß, hakte das Steigeisen in die Wand und begann den Abstieg.
    Er war lang und schien ihr endlos zu dauern, viel länger als fünfundzwanzig Meter. Fünfundzwanzig Meter, in denen sich die Gedanken nicht abschalten ließen. Daher entschied sie sich zu reden. Sie sprach mit Ana. Immer wieder rief sie ihren Namen.
    In jener Nacht vor zwei Jahren hatte Katie vergeblich darauf gewartet, dass Sebastien ihren Namen rief. Dass er ihr zurief: »Geiler Sprung!« Oder: »Willst du fliegen? Dann spring!«
    Sie hatte vergeblich darauf gewartet, dass er die Steig-klemmen in den Brückenpfeiler hämmerte.
    Hatte umsonst gehofft, dass sein Kopf über dem Geländer auftauchte, sein schiefes Lachen auf dem Gesicht, das nichts als Triumph ausdrückte.
    Aber er war nicht wiedergekommen und die Nacht war so dunkel und eiskalt gewesen. Sie hatte Minuten damit vergeudet zu warten. Minuten verschwendet mit der Hoffnung, dass alles okay war.
    Was hätte auch passieren sollen?
    Wo lag das Risiko?
    Wie hatte Sebastien ihr immer erklärt? Beim Brückenspringen kann einfach nur das Seil reißen – sonst nichts.
    Katie hielt das Seil fest mit beiden Händen umklammert, während sie tiefer und tiefer in die Spalte vorstieß.
    Scheißkalt. Es war einfach nur scheißkalt. Sie musste bereits Frostbeulen an den Händen

Weitere Kostenlose Bücher