Die Katastrophe
haben, trotz ihrer Handschuhe. Wenigstens spürte sie die Verletzungen von ihrem Sturz nicht mehr, vermutlich lag das am Adrenalin.
Nicht nach unten schauen. Nicht nach unten schauen.
Sie tat es dennoch und starrte in eine Tiefe, die immer düsterer zu werden schien, je weiter sie kam. Es war, als schöbe sich ein dunkler Schatten über die Schönheit der oberen Regionen. Verschwommen registrierte sie die überall senkrecht abfallenden Eiswände um sie herum, als ein Sonnenstrahl sich in die Tiefe verirrte, wo die Farbe des Eises sich in ein dunkles Aquamarin verwandelt hatte.
Ihre Gedanken waren wie eingefroren, genau wie ihre Hände und Füße. Je tiefer Katie kam, desto eisiger wurde die Luft und die Spalte verengte sich zunehmend.
Und immer wieder stoppte sie, um sich auszuruhen. Dabei rief sie unermüdlich Anas Namen. Nie erhielt sie eine Antwort. Und jedes Mal erstarrte sie in einem Gefühl unermesslicher Einsamkeit.
Schneller, Katie, schneller.
Sie hatte sich schon hundert Mal in ihrem Leben abgeseilt. Es war eine Frage der Konzentration und Koordination. Sie durfte keine Kräfte verschwenden, sie musste sie sparen für Ana und den Rückweg.
Aber es war anstrengend. Nichts von dem, was sie sich erhofft hatte, war bei dieser Tour eingetroffen. Dieses irrsinnige Gefühl von Freiheit und der unglaubliche Adrenalin-Flash, den sie zusammen mit Sebastien erlebt hatte. Denn jedes Mal, wenn sie in den letzten Tagen einen aufkeimenden Triumph gespürt hatte, war wieder etwas passiert.
Sie hatten es durch den Sumpf geschafft, nur um wenig später im Tunnel fast verschüttet zu werden.
Sie hatten die Hütte erreicht, nur um in der Nacht vom Schneesturm überrascht zu werden.
Sie hatten den Gipfel bezwungen und einen Moment später war Ana bewusstlos geworden.
Was, wenn das Gefühl, das sie so geliebt hatte, mit Sebastien zusammen verloren gegangen war? Was, wenn es nur ein Teil ihrer Liebe gewesen war?
Katie hatte damals nicht begriffen, dass das Seil tatsächlich gerissen war. Wie hätte sie damit auch rechnen sollen? Es war nagelneu gewesen.
Später hatte die Polizei sie immer und immer wieder danach gefragt.
Wie oft habt ihr das Seil benutzt, bevor es gerissen ist?
Wie erklärst du dir, dass das Seil gerissen ist?
Es gab keine Antworten auf diese Fragen.
Es war ein Unglück.
Aber die anderen brauchten Antworten.
Die Polizei, die Versicherung, ihr Vater, die Presse, ja allen voran die Presse und dann natürlich Sebastiens Eltern.
Die Einzige, die nie eine Frage gestellt hatte, war Katies Mutter gewesen und plötzlich glaubte Katie zu verstehen, warum. Weil Mi Su genau dasselbe erlebt hatte. Hier oben auf diesem Berg.
Katies Blick glitt nach unten und fast hätte sie aufgeschrien. Im Schein ihrer Stirnlampe konnte sie einen Umriss in der Dunkelheit unter ihr ausmachen. Ana! Anas dunkelbraune Jacke. Sie legte an Tempo zu und kurz darauf konnte sie die Gestalt ganz deutlich sehen. Das Mädchen lag zusammengekrümmt auf dem Boden und rührte sich nicht.
»Halt durch«, rief sie. »Ich bin gleich bei dir. Es sind nur noch ein paar Meter.«
Doch einen Moment später erkannte sie, dass sie dieses Versprechen zu früh gegeben hatte. Die Wand, an der sie hing, war nicht wirklich eine Wand – sondern eine Eisrinne, die nach unten abbrach. Damit lag Ana tiefer, als sie vermutet hatten. Das Seil würde nicht reichen. Und das war nicht alles. Die Eisrinne hatte nicht die gleiche Stabilität wie eine Eis-wand. Deutlich vorsichtiger bewegte sie sich nun voran, hakte die Steigeisen nur noch oberflächlich in die Wand.
Sie hatte die Wahl gehabt.
Sie hatte die Wahl gehabt zwischen dieser Wand und der gegenüberliegenden auf der Seite, auf der Chris, Julia und Benjamin gestanden hatten. Aber sie hatte falsch gewählt.
Warum sie sich so und nicht anders entschieden hatte?
Gefühl und der erste Eindruck, der getäuscht hatte.
Es war die falsche Entscheidung gewesen. Die Eisrinne endete circa fünf, sechs Meter über dem Boden. Und das Seil reichte höchstens noch einen Meter weiter.
Und dann?
Du musst springen, Katie.
Du bist wie eine Katze, oder? Du hast sieben Leben. Du landest auf den Füßen, wenn du aufpasst.
Die Frage war nur, wie sie Ana und sich selbst dann wieder hochbringen sollte.
War es richtig, was sie tat? Oder wieder ein Fehler wie bei Sebastien? Sie war den Brückenpfeiler hinuntergeklettert, um ihm zu Hilfe zu kommen, anstatt einen Krankenwagen zu rufen. Und hatte wertvolle Zeit
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