Die Katastrophe
verloren.
Noch drei Meter.
Noch zwei.
Sie hatte sich nie vor dem Sprung in die Tiefe gefürchtet. Und als dieser Psychologe sie gefragt hatte, ob sie darunter leide, fahrlässig gehandelt zu haben, hatte Katie schnippisch erwidert: »Warum? Es war ja nicht leichtsinnig. Es war das Seil, verstehen Sie? Das Seil ist gerissen.«
Beim nächsten Tritt fand Katie keinen Halt mehr im Eis. Sie hatte das Ende der Rinne erreicht. Das Seil schwang hin und her.
Okay, Katie, spring.
Lass einfach los.
Und Katie ließ los.
Ihr Helm prallte gegen die unterste Kante der Eiswand. Sekundenlang wurde ihr schwarz vor den Augen. Als sie am Boden aufprallte, versuchte sie, sich so zu drehen, dass sie auf dem Rücken abrollen konnte, doch im letzten Moment hielt sie nur noch die Arme schützend über ihren Kopf.
Eine Wolke aus Schnee und Eissplittern fiel auf sie herab.
Dann Dunkelheit.
Einige Augenblicke lang bewegte sie sich nicht. Blieb einfach ruhig liegen. Doch mit jedem Atemzug, den sie Luft holte, begriff Katie, dass ihre schlimmste Befürchtung falsch war. Sie lag nicht unter einer Schneedecke begraben. Innerhalb von Sekunden schaffte sie es, ihr Gesicht von den Eissplittern zu befreien.
Ihre Stirnlampe war ausgegangen. Das war alles, was passiert war. Sie rappelte sich auf, wischte über die Augen, robbte auf den Knien zu Ana hinüber und berührte sie vorsichtig: »Ana?«
Doch sie erhielt keine Antwort.
28
A na?«
Alles war still.
Totenstill.
Und dunkel.
Katie zog die Handschuhe aus und spürte, wie die Schrammen auf der Innenfläche ihrer Hände brannten. Die ganze Zeit über, als sie nach unten geklettert war, hatte das Adrenalin die Schmerzen betäubt und die Angst in den Hintergrund gedrängt. Doch nun forderten die letzten Tage ihren Tribut. Dazu kamen die Kälte und diese fast unwirkliche Schattenwelt. Es war nicht vollkommen dunkel hier unten, aber nichts mehr erinnerte an die Magie der oberen Regionen. Stattdessen herrschte ein dreckiges Blaugrau vor, das Katie die Tatsache nur noch deutlicher vor Augen führte, dass sie von allen Seiten vom Eis eingeschlossen war.
Die Lampe. Ihre Stirnlampe. Ohne sie war Katie hier unten aufgeschmissen. Ihre Hand ging nach oben und tastete nach dem Schalter. Doch nichts passierte.
Mist!
»Katie? Katie, alles okay?«
Katie glaubte im ersten Moment, Ana hätte ihr endlich geantwortet. Doch dann begriff sie – der Ruf kam von oben, wo Pauls hellgraue Goretex-Jacke mit dem Rand der Eisspalte verschwamm. Er schien unendlich weit von ihr entfernt.
»Alles okay«, schrie sie, aber sie hatte keine Ahnung, ob er sie hören konnte.
Wieder ging ihre Hand zur Lampe, wieder vergeblich. Sie zog sie von der Stirn und tastete das Plastikgehäuse ab. Keine Batterien. Sie mussten bei dem Sprung herausgefallen sein.
Okay, Ana ging erst einmal vor. Dann konnte sie sich um Licht kümmern.
Sie beugte sich zu der Verletzten hinunter und fühlte ihre Wangen. Sie waren eisig. Zu kalt? Oder nur zu kühl?
Sie hätte im Erste-Hilfe-Kurs besser aufpassen sollen. Sie tastete sich vor zum Hals. Wo war bloß die verdammte Halsschlagader? Schlug sie nicht mehr oder suchte Katie einfach nur an der falschen Stelle?
Wenn sie nur etwas sehen könnte!
Ihr kam eine Idee. Anas Stirnlampe.
Wo war die – in ihrem Rucksack? Oder, wenn Katie Glück hatte, – und sie benötigte verdammt noch mal eine Flatrate an Glück für den Rest des Tages –, steckte sie einfach in der Jackentasche.
Als Katie in Anas rechte Tasche griff, rührte sich das Mädchen zum ersten Mal, dann stöhnte sie kurz auf.
Katie fühlte, wie sie eine gigantische Welle der Erleichterung überflutete.
Ana lebte!
Vielleicht schwer verletzt, vielleicht unfähig, aus eigener Kraft aus der Spalte zu kommen – aber sie lebte!
Glück. Sie hatte gigantisches Glück gehabt!
Und da wäre es doch wohl gelacht, wenn sie diese Fuck-Taschenlampe nicht fand.
Einen Moment später stieß Katie tatsächlich auf das Licht – Ana hatte es an der Hose befestigt. Erleichtert löste Katie die Befestigung, und als sie den kleinen Schalter gefunden hatte und sie anknipste, leuchtete die LED-Lampe so hell, dass Katie im ersten Moment irritiert die Augen zusammenkniff.
Doch gleich darauf konnte sie klar sehen.
Ihr erster Blick galt den Verletzungen des Mädchens, soweit sie die beurteilen konnte.
Ana lag zusammengerollt auf der Seite, die Knie bis an die Brust gezogen, den Kopf zur Seite gedreht, fast, als sei sie gefesselt. Der Mund stand
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