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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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war.
    Sie hätte später nicht mehr sagen können, wann sie wieder
zu Verstand gekommen und wie sie aus dem Palast auf die Straßen von Paris
entflohen war. Die Dämmerung hatte schon fast eingesetzt, als sie vor einem
Hindernis zu einem taumelnden Halt kam. Sie blickte nach oben. Noch in ihrem
Wahn befangen, vermeinte sie, vor ihr rage ein gewaltiges Schiff auf der Seine
empor. Sie fiel auf die Knie und dankte Gott, ihr ein Wasserfahrzeug gesandt zu
haben, das sie weit fort von der Stätte ihres Unglücks und ihrer Schmach bringen
könnte.
    »Noch ist die Kirche nicht geweiht, Schwester«, hörte sie eine
freundliche männliche Stimme hinter sich. »Manche glauben, Gott lasse sich erst
nach Worten und Taten des Priesters in einem Haus nieder, wo er den Gläubigen
anhört. Für mich hingegen ist Gott überall und immerdar. Er bedarf keines
eindrucksvollen Gebäudes, um unsere Gebete aufzunehmen, und schon gar keiner
kostspieligen Steinmetzarbeiten. Doch solange du dich nicht von der
Kunstfertigkeit der Farben und Linien ablenken lässt, wird er dir auch hier
unter dem künftigen Rosenfenster die Zwiesprache nicht verweigern.«
    Verwirrt hob Clara den Kopf. Ihr Blick traf erst auf freundliche
braune Augen, folgte dann dem nach oben gestreckten Arm des Mannes, der auf ein
riesiges rundes Loch im Bug jenes Schiffes wies, das Clara jetzt als den Rohbau
der großen Kathedrale auf der Insel mitten in der Seine erfasste.
    Zwischen den Streben in der runden Luke bewegte sich ein Schwarm
dunkler Insekten. Dies ist der Tag der Irrtümer, ging ihr durch den Kopf, als
sie dankbar die ihr nun dargebotene Hand des Mannes ergriff, um sich daran
hochzuziehen.
    »Ich kenne dich«, sagte er, »auch wenn ich deinen Namen nicht weiß.
Verzeih mir, aber die Frage in deinem Gesicht ist mir schon auf der Versammlung
vor einigen Jahren aufgefallen. Ich wollte dich ansprechen, aber das wäre
ungehörig gewesen. Danach habe ich dich nie wieder bei den Unseren gesehen.«
    »Die Frage?« Clara war fest entschlossen, von nun an jedem
möglichen Missverständnis augenblicklich nachzuspüren. Sie beauftragte ihr
Gehirn, ordentlich zu arbeiten. Im kreisrunden Loch der im Bau befindlichen
unerhört riesigen Kirche schwirrten keine Insekten umher, sondern hier waren
Männer damit beschäftigt, buntes Glas einzupassen, um das verblüffend runde
Rosenfenster zu gestalten, auf das sich Blanka, die Schutzherrin des Baus,
ungemein freute. Clara atmete tief durch, dankbar, wieder bei Sinnen zu sein.
    »Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich und was soll ich
hier?«, antwortete der Mann und schob den orientalisch anmutenden schwarzen
Filzhut in den leicht gebräunten Nacken. »Dem, der es zu lesen versteht, steht
diese Frage deutlich auf deiner Stirn geschrieben. Zu lange war ich selbst ein
Suchender, als dass ich eine Gleichgesinnte nicht erkennen würde.«
    Clara wischte sich rasch über die Stirn, als stünde dort tatsächlich
eine Kohleschrift. Sie konnte sich an den jungen Mann nicht erinnern, wohl aber
sehr gut an die einzige Versammlung fremder Menschen, in die sie zwei Jahre
zuvor zufällig hineingeraten war und die sie zutiefst verstört hatte.
    »Damals wollte ich doch nur in aller Ruhe beten«, sagte sie. »Aber
in der kleinen Kapelle waren zu dieser ungewöhnlichen Zeit so viele Menschen.«
Sie runzelte die Stirn. »Die haben auch gebetet. In einer richtigen Kirche«,
setzte sie bestimmt hinzu. Sie konnte sich noch gut entsinnen, wie befremdlich
sie diese Gebete gefunden hatte, wie erstaunt sie gewesen war, als plötzlich
gar eine Frau gewagt hatte, das Wort zu ergreifen. Keiner hatte sie empört
zurechtgewiesen, und sogar die Männer hatten dem Weib andächtig gelauscht. Sie
wusste noch genau, mit welchem Entsetzen sie aus der Kapelle geflüchtet war,
als ihr aufging, dass diese Menschen so sprachen wie damals die beiden dunkel
gekleideten Frauen in Marmande. In der Nacht darauf hatten sie Albträume von
Marmande gequält und in den Tagen danach trieb sie ihr schlechtes Gewissen um.
Sie hätte der römischen Kirche das böse Treiben in der Nähe des Palasts nicht
verschweigen dürfen. Erst, als es ihr halbwegs gelungen war, das Erlebte aus
ihrem Gedächtnis zu streichen, wagte sie es wieder, zur Beichte zu gehen.
    Der schwarz gekleidete junge Mann lächelte vergnügt und bemerkte:
»Warum nicht auch in einer Kirche, wenn man Gott doch allerorten anbeten kann.
Wir treffen uns an vielen Stätten. Gern auch in Kirchen, denn dort sind

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