Die Kathedrale des Meeres
Grimasse.
»Warum nur habe ich ihm zugelächelt?«, dachte Elionor. Sie ballte die Fäuste. »Wie dumm von mir, mich vor einem gewöhnlichen Geldwechsler, einem entlaufenen Bauern zu demütigen!« Sie lebten nun seit anderthalb Monaten in Montbui und Arnau hatte sich ihr nicht genähert. War er denn kein Mann? Wenn niemand hinschaute, betrachtete sie Arnaus starken, kräftigen Körper, und wenn sie nachts alleine in ihrem Bett lag, träumte sie davon, dass dieser Mann sie leidenschaftlich nahm. Wie lange hatte sie keine Leidenschaft mehr empfunden? Und er demütigte sie mit seiner Gleichgültigkeit. Wie konnte er es wagen? Elionor biss sich heftig auf die Unterlippe. Er wird schon noch kommen, sagte sie sich.
An Mariä Himmelfahrt stand Elionor frühmorgens auf. Vom Fenster ihres einsamen Schlafgemachs aus sah sie auf die Wiese mit dem Podest hinunter, das sie hatte errichten lassen. Die Bauern begannen sich in der Ebene einzufinden. Viele hatten überhaupt nicht geschlafen, um dem Aufruf ihrer Herrschaften rechtzeitig zu folgen. Ein Adliger war noch nicht gekommen.
40
Die Sonne verhieß einen herrlichen, heißen Tag. Der Himmel war klar und wolkenlos wie vor beinahe vierzig Jahren bei der Hochzeit eines Leibeigenen namens Bernat Estanyol. Wie eine leuchtend blaue Kuppe wölbte er sich über den Tausenden von Untertanen, die sich in der Ebene versammelt hatten. Bald war es so weit. Elionor, die ihre prächtigsten Kleider trug, ging nervös in dem großen Saal der Burg Montbui auf und ab. Es fehlten nur noch die Adligen und Ritter! Joan saß in seinem schwarzen Habit auf einem Stuhl, und Arnau und Mar warfen sich bei jedem verzweifelten Seufzer von Elionor belustigte Blicke zu, so als hätten sie mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Schließlich trafen die Adligen ein. Einer von Elionors Dienern, der genauso ungeduldig war wie seine Herrin, stürzte formlos in den Saal, um ihre Ankunft zu melden. Die Baronin trat ans Fenster, und als sie sich wieder zu den Anwesenden umdrehte, strahlte ihr Gesicht vor Glück. Die Adligen ihrer Baronie zogen mit allem Pomp, den sie aufzubieten hatten, in die Ebene ein. Mit ihren kostbaren Kleidern, ihren Schwertern und Juwelen mischten sie sich unters Volk und brachten Farbe in das triste Grau der Bauernkleidung. Die Pferde wurden von Stallburschen hinter dem Podest aufgestellt. Ihr Wiehern übertönte das Schweigen, mit dem die einfachen Leute ihre Herrschaften empfingen. Die Diener der Adligen stellten kostbare, mit bunter Seide bezogene Sessel vor dem Podest auf, wo die Adligen ihren neuen Baronen den Treueid leisten sollten. Instinktiv rückten die Menschen von der hintersten Stuhlreihe ab, um einen sichtbaren Abstand zwischen sich und den Privilegierten zu schaffen.
Elionor sah erneut aus dem Fenster und lächelte, als sie feststellte, mit wie viel Prunk und Vornehmheit ihre Vasallen sie willkommen zu heißen gedachten. Als sie schließlich vor ihnen auf dem Podest saß und sie von oben herab betrachtete, fühlte sie sich wie eine echte Königin.
Elionors Schreiber, der als Zeremonienmeister fungierte, eröffnete den Festakt, indem er den Erlass Pedros III. verlas, durch den dieser seinem Mündel Elionor die königliche Baronie Granollers, Sant Vicenç und Caldes de Montbui mitsamt aller Untertanen, Ländereien und Zehnten zur Mitgift gab. Elionor waren seine Worte eine Genugtuung. Sie spürte die Blicke, den Neid und – so schien es ihr – den Hass ihrer Gefolgsleute, die bislang allein dem König Untertan gewesen waren. Auch zukünftig würden sie dem Herrscher zur Treue verpflichtet sein, doch von nun an würde eine weitere Autorität zwischen ihnen stehen: sie, Elionor. Arnau hingegen achtete gar nicht auf die Worte des Schreibers, sondern erwiderte das Lächeln der Bauern, die er besucht und denen er geholfen hatte.
Unter dem einfachen Volk standen unbeteiligt zwei auffällig gekleidete Frauen, wie es ihnen ihr Stand als Dirnen vorschrieb. Die eine war bereits betagt, die andere eine reife Schönheit, die stolz ihre Reize zur Schau stellte.
»Ihr Adligen und Ritter!«, rief der Schreiber, und diesmal hörte auch Arnau hin. »Schwört ihr Arnau und Elionor, Baron und Baronin von Granollers, Sant Vicenç und Caldes de Montbui, die Treue?«
»Nein!«
Das Nein schien den Himmel zu zerreißen. Der abgesetzte Vogt der Burg Montbui war aufgestanden und hatte mit donnernder Stimme auf die Frage des Schreibers geantwortet. Ein leises Murmeln erhob sich aus der Menge, die
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