Die Kathedrale des Meeres
»Das ist bestimmt wieder eine Kathedrale.«
»Es ist keine Kathedrale«, hörten sie eine Stimme hinter sich. Arnau und Joanet blickten sich an und lächelten. Dann drehten sie sich um und sahen den kräftigen, schwitzenden Mann, der einen riesigen Steinquader auf dem Rücken trug, fragend an. Was ist es dann?, schien Joanet mit seinem Lächeln sagen zu wollen.
»Die Kathedrale wird von den Adligen und der Stadt finanziert. Diese Kirche hingegen, die noch viel bedeutender und schöner sein wird als die Kathedrale, wird vom Volk bezahlt und gebaut.«
Der Mann war nicht einmal stehen geblieben. Das Gewicht des Steins schien ihn vorwärts zu treiben. Aber er hatte ihnen zugelächelt.
Die beiden Jungen folgten ihm bis zur Seitenmauer der Kirche, an die ein weiterer Friedhof grenzte, der Fossar Menor.
»Können wir Euch helfen?«, fragte Arnau.
Der Mann schnaufte, bevor er sich umwandte und erneut lächelte.
»Vielen Dank, mein Junge, aber besser nicht.«
Schließlich bückte er sich und wuchtete den Stein auf den Boden. Die Jungen blickten sich an und Joanet trat näher heran. Er versuchte, den Stein zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Der Mann brach in schallendes Lachen aus, das Joanet mit einem Lächeln beantwortete.
»Wenn es keine Kathedrale ist, was ist es dann?«, fragte Arnau, wobei er auf die achteckigen Säulen deutete.
»Das hier ist die neue Kirche, die das Ribera-Viertel in Dankbarkeit und Verehrung für unsere Schutzpatronin, die Jungfrau, erbaut …«
Arnau zuckte zusammen. »Die Jungfrau Maria?«, unterbrach er ihn mit weit aufgerissenen Augen.
»Natürlich, mein Junge«, antwortete der Mann und fuhr ihm übers Haar. »Die Jungfrau Maria, Schutzpatronin des Meeres.«
»Und … und wo ist die Jungfrau Maria?«, fragte Arnau weiter und sah zur Kirche herüber.
»Dort drüben in der kleinen Kirche. Aber wenn dieser Bau fertig ist, wird sie das größte Gotteshaus ihr Eigen nennen, das sie je besaß.«
Dort drinnen! Arnau hörte nicht mehr länger zu. Dort drinnen war seine Jungfrau. Plötzlich war ein Rauschen zu hören und alle blickten nach oben: Ein Schwarm Vögel war vom obersten Gerüst aufgeflogen.
9
Das Stadtviertel Ribera de Mar, wo die Kirche zu Ehren der Jungfrau Maria erbaut wurde, war aus einer Vorstadt des karolingischen, von den alten römischen Stadtmauern umgebenen Barcelonas hervorgegangen. In seinen Anfängen war es ein einfaches Viertel der Fischer, Stauer und anderer einfacher Leute gewesen. Schon damals gab es dort ein kleines Gotteshaus, Santa María de las Arenas, ›Die Heilige Jungfrau vom Sande‹, errichtet an jener Stelle, wo angeblich die heilige Eulàlia im Jahre 303 den Märtyrertod erlitten hatte. Die kleine Kirche Santa María de las Arenas erhielt diesen Namen, weil sie direkt auf dem Sandstrand von Barcelona erbaut wurde, doch durch die Sedimentablagerungen, die auch die Häfen unbrauchbar gemacht hatten, die Barcelona früher einmal besaß, hatte sich die Küstenlinie immer weiter von der Kirche entfernt, bis schließlich ihr ursprünglicher Name verlorenging. Seit damals hieß sie Santa María del Mar, denn auch wenn die Entfernung zum Ufer größer geworden war, änderte dies nichts an der Verehrung all jener Männer, die vom Meer lebten.
Im Laufe der Zeit war auch die Stadt gezwungen gewesen, nach neuem Terrain vor den Toren zu suchen, um Platz für das aufstrebende Bürgertum Barcelonas zu schaffen, für das der römische Stadtkern zu klein geworden war. Unter den drei möglichen Himmelsrichtungen entschied sich die Bürgerschaft für den östlichen Bereich, wo der Verkehr vom Hafen in die Stadt strömte. Dort, in der Calle de la Mar, ließen sich die Silberschmiede nieder. Die übrigen Straßen erhielten ihre Namen von den Geldwechslern, Tuchhändlern, Metzgern und Bäckern, Wein- und Käsehändlern, Hutmachern, Waffenschmieden und einer Vielzahl anderer Handwerker. Es gab außerdem einen Handelshof, wo die auswärtigen Händler abstiegen, die in der Stadt weilten, und hinter der Kirche Santa María wurde die Plaza del Born gebaut, auf der Wettkämpfe und Turniere stattfanden. Doch das neue Viertel am Ufer zog nicht nur reiche Handwerker an; auch viele Adlige zogen im Gefolge des Seneschalls Guillem Ramon de Monteada dorthin, dem der Graf von Barcelona, Ramon Berenguer IV. das Bauland für jene Straße überlassen hatte, die dann seinen Namen trug. Diese Calle Monteada mit ihren mächtigen, luxuriösen Palästen mündete in die Plaza del Born,
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