Die Kathedrale des Meeres
seidigen, rabenschwarzen Haars spüren. Und ganz selten, wenn er sich unbeobachtet fühlte, wanderte sein Blick an Aledis' Hals hinab bis dorthin, wo die Brüste der älteren der beiden Schwestern zu erahnen waren, trotz des groben Kittels, den sie trug. Dann durchfuhr ein unbekannter Schauder seinen ganzen Körper, und wenn niemand hinschaute, ließ er seinen Blick noch weiter hinabgleiten, um sich an den Rundungen des Mädchens zu ergötzen.
Gastó Segura hatte während der Hungersnot alles verloren, was er besaß, und dieses Schicksal hatte ihn, der schon vorher ein schroffes Wesen besaß, noch verbitterter gemacht. Sein Sohn Simò arbeitete als Gerberlehrling mit ihm zusammen. Seine große Sorge waren diese beiden Mädchen, denen er keine Mitgift geben konnte, damit sie einen guten Ehemann fanden. Doch die Mädchen waren von einer außergewöhnlichen Schönheit, und Gastó vertraute darauf, dass sie einen anständigen Mann fanden. Dann hätte er zwei Mäuler weniger zu stopfen.
Dazu, so dachte der Mann, mussten die Mädchen ihre Unschuld bewahren. Niemand in Barcelona durfte auch nur den geringsten Zweifel an ihrem Anstand hegen. Nur so, schärfte er Eulàlia und Simò immer wieder ein, würden Alesta und Aledis einen guten Ehemann finden. Die drei – Vater, Mutter und älterer Bruder – hatten dieses Ziel zu ihrem eigenen gemacht. Doch während Gastó und Eulàlia fest darauf vertrauten, dass es ein Leichtes sein würde, dieses Ziel zu erreichen, sah das bei Simò anders aus, je länger sie mit Arnau und Joan unter einem Dach lebten.
Joan hatte sich zum begabtesten Schüler der Domschule entwickelt. Schon nach kurzer Zeit beherrschte er das Lateinische, und seine Lehrer lobten diesen ruhigen, besonnenen, nachdenklichen und vor allem gläubigen Schüler in den höchsten Tönen. Bei seinen ganzen Vorzügen zweifelten nur wenige daran, dass ihm eine große Zukunft innerhalb der Kirche bevorstand. Joan gelang es, die Achtung von Gastó und Eulàlia zu gewinnen, die oft gemeinsam mit Pere und Mariona aufmerksam und hingerissen den Ausführungen des Jungen über die Heiligen Schriften folgten. Nur die Priester konnten diese lateinischen Bücher lesen, und nun saßen die vier in einem bescheidenen Häuschen am Strand und konnten den heiligen Worten, den alten Geschichten und den Botschaften des Herrn lauschen, die sie zuvor nur von den Kanzeln herab gehört hatten.
Doch wenn Joan die Achtung seiner Mitbewohner gewonnen hatte, so stand ihm Arnau in nichts nach. Selbst Simò betrachtete ihn mit Neid. Ein Bastaix! Nur wenige im Ribera-Viertel wussten nicht, dass Arnau im Schweiße seines Angesichts Steine für die Jungfrau heranschleppte. »Angeblich hat der große Berenguer de Montagut vor ihm niedergekniet, um ihm zu helfen«, hatte ihm ein anderer Lehrling in der Gerberwerkstatt erzählt. Simò stellte sich vor, wie der große, von Adligen und Bischöfen geachtete Baumeister zu Arnaus Füßen niederkniete. Wenn der Baumeister etwas sagte, verstummten alle, sogar sein Vater. Und wenn er brüllte, dann zitterten sie. Simò beobachtete Arnau, wenn dieser abends nach Hause kam. Er war müde und verschwitzt, in der Hand die Capçana … und doch lächelte er! Wann hatte er selbst einmal gelächelt, wenn er von der Arbeit kam? Einmal war er Arnau begegnet, als dieser Steine nach Santa María schleppte. Seine Beine, die Arme, die Brust – alles schien aus Eisen zu sein. Simò betrachtete den Stein und dann Arnaus verzerrtes Gesicht. Hatte er da ein Lächeln gesehen?
So kam es, dass sich Simò sehr zurückhielt, wenn Arnau oder Joan kamen, obwohl er älter war als die beiden und eigentlich auf seine Schwestern aufpassen sollte. Die beiden Mädchen genossen die Freiheit, die ihnen verwehrt blieb, wenn ihre Eltern da waren.
»Machen wir einen Spaziergang am Strand!«, schlug Alesta eines Tages vor.
Simò wollte sich weigern. Am Strand spazieren gehen … Wenn sein Vater sie sah!
»Einverstanden«, sagte Arnau.
»Es wird uns guttun«, pflichtete Joan bei.
Simò schwieg. Zu fünft gingen sie hinaus in die Sonne, Aledis neben Arnau, Alesta neben Joan, Simò als Letzter hinterdrein. Die Mädchen ließen ihre Haare im Wind flattern, der ihre weiten Kittel fest gegen ihre Körper presste, sodass sich die Brüste durch den Stoff abzeichneten.
Schweigend blickten sie aufs Meer hinaus oder gruben ihre Füße in den Sand, bis sie auf eine Gruppe untätiger Bastaixos trafen. Arnau winkte ihnen zu.
»Soll ich sie dir
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