Die Kathedrale des Meeres
vorstellen?«, fragte er Aledis.
Das Mädchen sah zu den Männern herüber. Alle starrten sie an. Warum glotzten sie so? Mein Gott, sie schienen durch den Stoff ihres Kittels hindurchzusehen! Das Mädchen errötete und schüttelte den Kopf, doch Arnau ging bereits zu ihnen. Aledis kehrte um und Arnau blieb auf halbem Wege stehen.
»Lauf ihr hinterher, Arnau«, hörte er einen seiner Zunftbrüder rufen.
»Lass sie nicht entwischen«, riet ihm ein Zweiter.
»Sie ist wirklich hübsch!«, urteilte ein Dritter.
Arnau beschleunigte seine Schritte, bis er Aledis eingeholt hatte.
»Was hast du denn?«
Das Mädchen gab keine Antwort. Sie wandte ihr Gesicht ab und hatte die Arme vor der Brust verschränkt, aber sie ging nicht nach Hause. So liefen sie nebeneinanderher, nur begleitet vom Rauschen der Wellen.
20
Als sie an diesem Abend gemeinsam am Herd saßen und aßen, schenkte das Mädchen Arnau eine Sekunde länger Beachtung als nötig, eine Sekunde, in der sie ihre wunderschönen braunen Augen auf ihn heftete.
Eine Sekunde, in der Arnau wieder das Meer rauschen hörte, während sich seine Füße in den warmen Sand gruben. Er warf den Übrigen einen Blick zu, um zu sehen, ob einer von ihnen die Unvorsichtigkeit bemerkt hatte. Doch Gastó unterhielt sich weiter mit Pere, und niemand schien im Geringsten auf ihn zu achten. Niemand schien die Wellen zu hören.
Als Arnau es wagte, Aledis erneut anzusehen, hatte sie den Kopf gesenkt und stocherte mit ihrem Löffel im Essen herum.
»Iss, Mädchen!«, rief Gastó sie zur Ordnung, als er sah, dass sie mit dem Löffel im Essen herumrührte, ohne ihn zum Mund zu führen. »Mit Essen spielt man nicht.«
Gastós Worte brachten Arnau in die Realität zurück, und während des restlichen Essens schenkte Aledis Arnau nicht nur keinen Blick mehr, sondern wich ihm regelrecht aus.
Die seltenen Male, die sie sich in den nächsten Tagen begegneten, hätte Arnau nur zu gerne erneut Aledis' braune Augen auf sich ruhen gespürt. Doch das Mädchen ging ihm aus dem Weg und hielt den Blick gesenkt.
»Auf Wiedersehen, Aledis«, sagte er eines Morgens gedankenverloren zu ihr, als er die Tür öffnete, um zum Strand hinunterzugehen.
Der Zufall wollte es, dass sie in diesem Moment allein waren. Er wollte die Tür hinter sich zuziehen, doch etwas trieb ihn dazu, sich noch einmal nach dem Mädchen umzudrehen. Und da stand sie neben dem Herd, aufrecht und wunderschön, und ihre braunen Augen waren eine Einladung.
Endlich! Arnau errötete und senkte den Blick. Verwirrt versuchte er die Tür zuzuziehen, doch erneut hielt er mitten in der Bewegung inne. Aledis stand immer noch dort und lockte ihn mit ihren großen braunen Augen. Sie lächelte. Aledis lächelte ihm zu.
Seine Hand glitt von der Türklinke, er stolperte und wäre beinahe hingefallen. Er wagte es nicht, sie erneut anzusehen, und lief leichtfüßig in Richtung Strand. Die Tür ließ er offen.
»Er ist verlegen«, flüsterte Aledis ihrer Schwester an diesem Abend zu, bevor ihre Eltern und ihr Bruder sich schlafen legten. Sie lagen nebeneinander auf der Matratze, die sie sich teilten.
»Warum sollte er verlegen sein?«, fragte diese. »Er ist ein Bastaix. Er arbeitet am Strand und schleppt Steine für die Jungfrau. Du bist nur ein Kind. Er ist ein Mann«, setzte sie mit einem Anflug von Bewunderung hinzu.
»Du bist selbst ein Kind«, gab Aledis zurück.
»Ah, da spricht die Frau!«, entgegnete Alesta und drehte ihr den Rücken zu. Es war der Satz, den ihre Mutter immer benutzte, wenn eine von ihnen beiden etwas wollte, was ihrem Alter nicht angemessen war.
»Schon gut, schon gut«, gab Aledis zurück.
War sie etwa keine Frau? Aledis dachte an ihre Mutter, an die Freundinnen ihrer Mutter, an ihren Vater. Vielleicht hatte ihre Schwester recht. Weshalb sollte Arnau, ein Bastaix, der ganz Barcelona seine Verehrung für die Jungfrau unter Beweis gestellt hatte, verlegen sein, weil sie, ein kleines Mädchen, ihn ansah?
»Er ist verlegen. Ich schwör's dir, er ist verlegen«, kam Aledis am nächsten Abend auf das Thema zurück.
»Du bist wirklich lästig! Warum sollte Arnau verlegen sein?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Aledis, »aber es ist so. Er traut sich nicht, mich anzusehen. Er wird verlegen, wenn ich ihn ansehe. Er zuckt zusammen, wird rot, geht mir aus dem Weg …«
»Du bist verrückt!«
»Mag sein, aber …« Aledis wusste, was sie sagte. Am Abend zuvor hatte ihre Schwester sie verunsichert, doch heute würde
Weitere Kostenlose Bücher