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Die Keltennadel

Die Keltennadel

Titel: Die Keltennadel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Dunne
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Klimaanlage zurückgeführt hatte, schob sie ein Panoramafenster auf, das auf einen eigenen Balkon mit einem Blick nach Süden auf die Stadt ging. Als sie nach draußen trat, hob eine warme Brise die Stores an. Unter ihr lagen Moscheen, Minarette und die Kuppeln vieler Kirchen, und in der dunstigen Ferne beim Hafen konnte sie die Hagia Sophia, die Kirche der Heiligen Weisheit, erkennen, die sie zum ersten Mal in natura sah. Sie war in Istanbul, weil das zum Titel ihres Albums passte und helfen würde, den türkischen Markt für ihre Musik zu erweitern. Und wie David in einer seltenen Anwandlung von Leichtfertigkeit gesagt hatte, war Konstantinopel schon oft der Startplatz für Kreuzzüge ins Heilige Land gewesen, und genau dorthin reiste sie als Nächstes. Trotz der milden Luft schauderte sie wieder und zuckte bei der Erinnerung an einen Traum zusammen, von dem sie eigentlich aufgewacht war.
    Als sie David eine eigene Wohnung im Getreidespeicher anbot, hatte er zunächst gezögert und gesagt, dass Ungestörtheit von äußerster Wichtigkeit für ihn sei. Die hatte sie ihm zugesichert und deshalb nie jemandem von seiner Anwesenheit erzählt, noch ihn seit seinem Einzug selbst besucht. Näher als am Morgen der CD-Präsentation, als sie an seine Tür geklopft hatte, war sie einem Besuch bei ihm nie gekommen. Damals hatte sie bei einem Blick über seine Schulter für einen kurzen Moment eine Skizze an der Wand hängen sehen. Sie erkannte sie als das Zweite der beiden Werke von Gustave Moreau, die sie auf Davids Anraten in London ersteigert hatte. Mit der Salome-Zeichnung konnte sie leben, aber die andere gefiel ihr ganz und gar nicht, und sie hatte sie ihm als Geschenk vermacht, das er anscheinend zu schätzen wusste. Die Skizze war der Entwurf für ein Gemälde namens »Fleur Mystique«.
    Darauf lagen in einer kahlen Felsenlandschaft die Körper toter und sterbender christlicher Märtyrer rings um den Fuß eines gewaltigen Lilienstängels, der senkrecht aus den Felsen drang, steif und geädert wie der Schaft eines erigierten Penis. Das aufgeplatzte obere Ende ließ ein gleichermaßen großes Bild der Heiligen Jungfrau sehen, welche die Blütenblätter der Lilie auseinander spreizte und wie auf einem Thron in ihrer Mitte saß. In einer Hand hielt sie ein Kreuz, in der anderen eine Lilie, ein Wasserfall aus Blut strömte unter ihr zu Boden, und Blut tropfte von den Gestalten unter ihr auf den Fels, sickerte in die Erde und nährte die monströse Pflanze.
    Becca wusste, dass es Blut war, obwohl es sich nur um eine Zeichnung handelte, denn als sie die Skizze an jenem Morgen in Davids Wohnung wieder sah, war sie verändert, man hatte ihr Farbe hinzugefügt, und der Wasserfall leuchtete in einem grellen Scharlachrot.
    Nachts schlichen sich nun Bilder dieser Zeichnung und der Szenen der Glasmalerei in ihre Träume, begleitet von Angstgefühlen. Vielleicht war das Ausbleiben ihrer Periode eine Reaktion auf die Blutigkeit des einen und die blasse Tödlichkeit des anderen. Sie konnte nicht ohne Widerwillen an Blut denken.
    In diesem Augenblick gellte der Aufruf zum Mittagsgebet aus dem Minarett einer Moschee, die ein kurzes Stück unterhalb des Hotels lag, und den ganzen Weg in die Stadt hinein antworteten ihm andere. Die Brüstung des Minaretts lag einige hundert Meter entfernt auf Augenhöhe von Becca, und sie hielt forschend nach dem Muezzin Ausschau. Doch schließlich wurde ihr klar, dass das ohrenbetäubende Klagen aus einem Lautsprecher an der Wand der Brüstung kam.

57
    D ie Schwester, die sich um Lavelles Verbände kümmerte, hatte einen harten Gesichtsausdruck und erfüllte ihre Aufgabe mit wenig Feingefühl. Er zuckte zusammen, als sie den Versband über der Stichwunde an der Seite grob wegriss.
    »Tut weh, was?«, fragte sie. »Gut so.«
    Sie war Ende Dreißig, etwa so alt wie er selbst.
    »He, was haben Sie für ein Problem?«, fuhr er sie an.
    »Priester«, antwortete sie und legte hastig einen neuen Verband über die Wunde. »Priester haben früher dieses Land beherrscht. Und Nonnen. Nonnen in Krankenhäusern wie diesem hier. Oder Schulen. Wurde alles von Priestern, Brüdern und Nonnen geleitet. Dann kam man euch auf die Schliche. Sexueller Missbrauch, Prügel für hilflose Waisen in eurer Obhut, Kindern das ganze Leben ruiniert –«
    »Jetzt mal langsam«, protestierte er, »das geht zu weit – wir haben schließlich auch das eine oder andere richtig gemacht.«
    »Ach ja? Wenn das einer wie Sie sagt, muss es ja

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