Die Keltennadel
lassen?
Jane stand vom Tisch auf und entfernte sich unbemerkt von ihren Begleitern. Sie ging in die Richtung der Via Mazzini, einer schmalen, den Fußgängern vorbehaltenen Einkaufsstraße. Sie dachte kurz an Peters Gespräch mit David Edwards. Konnte es sein, dass die mehrdeutigen, aber raffinierten Bemerkungen, die sie in ihren Beitrag über Beccas Album und das Video eingeflochten hatte, die erhoffte Reaktion auslösten? Edwards war Beccas spiritueller Berater. Darüber hinaus hatte er ihr Yeats nahe gebracht. Wozu brauchte er das Band? Es sei denn…? Aber das riss wieder die Erinnerung an alle Erlebnisse auf, seit Lavelle sie wie eine hämisch feixende Gestalt aus einem mittelalterlichen Danse macabre hinters Licht geführt hatte. Das tat zu sehr weh. Lieber nicht daran denken.
Sie schaute sich ohne großes Interesse in verschiedenen Läden um. Am Dienstagabend hatte sie in besserer Laune ein Paar dunkelgrüne Schuhe gekauft, die für eine Prinzessin der Medici gefertigt hätten sein können. Sie waren aus weichstem Kalbsleder, passten ihr perfekt und schienen kein Gewicht zu haben, als Jane sie anprobierte. Nun ging sie an dem Schuhgeschäft vorbei, weiter zu einer Buchhandlung, in der sie einige Leute interviewt hatte. Sie blieb kurz davor stehen und überlegte, was sie für ihre Mutter und Debbie kaufen könnte. Ein Stück die Straße entlang gab es einen Geschenkartikelladen mit einigen ausgefallenen Sachen und nicht zu teuer. Als sie gerade weitergehen wollte, fiel ihr Blick auf einen Buchtitel in der Auslage und ließ sie innehalten:
LA VISIONE DI GORMAN. Il segreto del monte Sinai.
Sie ging in den Laden, um sich das Buch genauer anzusehen.
Mit seiner Lage auf der Halbinsel Sinai, dort, wo sie sich zu einer Spitze zwischen dem Golf von Suez und dem Golf von Akaba verengt, ist das Kloster der heiligen Katharina wahrhaftig ›ein Rätsel im Gewand eines Geheimnisses in einem Mysterium‹.
Jane lehnte an den Bücherregalen und las die Einleitung zu Die Vision des Gorman. Das Buch hatte zwei italienische Autoren, Adelmo Celani und Marco Perselli und trug den Untertitel Das Geheimnis vom Berg Sinai.
Im Jahr 527 von dem großen byzantinischen Kaiser Justinian gegründet, wurde das Kloster eintausendfünfhundert Jahre lang von der Geschichte übergangen. Während Eroberer kamen und gingen, Reiche aufstiegen und versanken, führte die kleine Gemeinde von Mönchen ein Leben in Gebet und Meditation in dieser befestigten Anlage hoch auf dem Berg Sinai.
Am Aufstieg zum Kloster liegt ein wahres Memento mori für alle Könige und Herrscher dieser Erde – ein Beinhaus mit den Gebeinen der Mönche, die hier Jahr für Jahr aufgetürmt wurden, Schädel auf Schädel und alle Gliedmaßen von Tausenden von Individuen, ein riesiger Haufen.
Die Gebeine der heiligen Katharina selbst sollen sich im Kloster befinden, in einem Sarg aus Gold mit Einlegearbeiten aus Lapislazuli. Sie war die schöne Märtyrerin, die der Kaiser Maxentius auf einem Rad mit Eisenspitzen zerbrechen wollte, aber stattdessen brach das Rad selbst. So wurde sie geköpft, und aus ihren Adern floss kein Blut, sondern Milch. Engel brachten ihren Leichnam weg, und fünfhundert Jahre später fanden ihn die Mönche auf dem Berg Sinai. Bis heute sollen ihre sterblichen Reste den Duft parfümierten Öls verströmen.
Doch ihre Knochen sind nicht das Geheimnis dieses Ortes. Und auch nicht die vorzüglichste Ausstellung byzantinischer Mosaiken und Ikonen der ganzen Welt, die darauf wartet, den Besucher in diesem scheinbar weit abgelegenen Außenposten christlicher Askese zu überraschen. Oder die Stelle im Boden der Kapelle, an welcher angeblich der brennende Dornbusch gestanden haben soll. Es ist auch nicht die unschätzbare Sammlung religiöser Handschriften in der Bibliothek des Katharinenklosters, die sie zur zweitwichtigsten nach der des Vatikans macht. Aber in dieser Sammlung befindet sich ein Buch. Und dieses Buch könnte der Schlüssel zu einigen der anderen Geheimnisse des Klosters sein.
Jane blätterte die nächsten Seiten durch, wobei sie gelegentlich eine Stelle las, auf die ihr Blick gerade fiel. Dann sah sie etwas, das sie ein wenig länger verweilen ließ. Plötzlich trug sie das Buch zu einem Ladentisch, legte es darauf und las mit klopfendem Herzen weiter.
Falls es noch eines Beweises für die Bedeutung dieses Buches bedurft hätte – die Art, wie es sich präsentierte, als man es fand, wäre ein Indiz für seinen Wert. Illustrierte Bücher
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