Die Keltennadel
prächtig. Am Anfang war mein Bruder Scott ein bisschen eifersüchtig, weil er immer die Robinson-Crusoe-Gestalt in unserem Leben gewesen war – Baumhäuser bauen, Pfeil und Bogen basteln, solche Dinge. Aber Antonio führte ihn in alle Methoden der Anmache ein, über die südländische Jungs verfügen, und abends paradierten sie immer durchs nahe Dorf und übten ihre Fertigkeiten. Er zeigte sogar Hazel, wie man eine Olive mit den Zähnen entkernt und mit dem Stein dann beim Ausspucken jedes Ziel in Reichweite trifft. Er war schwer in Ordnung.«
»Habt ihr euch mal geküsst?«
»Ja. Einmal. Am Bach. Mehr schlecht als recht.«
»Und am Ende der Ferien seid ihr voller Versprechungen auseinander gegangen, nehme ich an.«
»O ja. Wir haben gestikuliert und auf Postkarten gedeutet.
›Du schreibst mir, ich schreibe dir.‹ Als wir zu Hause waren, habe ich ihm einen Brief auf Englisch geschickt, aber keine Antwort bekommen. Ich brütete eine Weile vor mich hin, und dann teilte ich meinem Vater mit, dass ich Italienisch lernen will. Er war süß und hat mir eine Grammatik und ein Wörterbuch gekauft. Ich gab nach einer Woche auf, aber irgendwie blieb der Wunsch doch erhalten. Und so habe ich Antonio auch noch mein Italienisch zu verdanken.«
Ihre Unterhaltung endete an dieser Stelle, weil die Stewardess das Frühstück servierte. Jane stocherte in ihrem Essen und dachte daran, wie ihr Vater, Scott und Hazel aus ihrem Leben verschwunden waren. Sollte das Gleiche mit Liam Lavelle passieren? Sie versuchte, die unerfreulichen Gedanken zu unterdrücken, die aus der von Dempsey gelegten Saat des Zweifels sprossen.
Als die Stewardess die Tabletts einsammelte, bat Jane um eine italienische Zeitung, um nachzusehen, ob etwas Interessantes über die kommenden Kulturveranstaltungen in Verona darin stünde.
Die Titelgeschichte im Corriere della Sera befasste sich mit der Versammlung religiöser Führer am kommenden Wochenende in Israel. Sie bildete den Auftakt zu einem zunächst einmonatigen Dialog zwischen den »Menschen des Buches«, womit Religionen gemeint waren, die ihre Wurzeln in der Bibel hatten – Juden, römische und griechisch-orthodoxe Katholiken, die verschiedenen protestantischen Konfessionen sowie schiitische und sunnitische Moslems. Es hatte eine Auseinandersetzung darüber gegeben, wie Ostern im Terminplan unterzubringen sei, da sich einige jüdische Teilnehmer gekränkt fühlen konnten, in geringerem Maße auch die Moslems. Ein Kompromiss sah vor, die Plenarsitzungen am Palmsonntag des christlichen Kalenders enden zu lassen, eine Woche vor Ostern, dem Tag, an dem Christus von den Bürgern Jerusalems willkommen geheißen wurde – ein annehmbares Symbol für alle. Falls bis dahin alle Bedingungen geklärt waren, sollte nach Ostern ein ständiges Gremium eingerichtet werden, ähnlich einem Ökumenischen Rat. Dieses würde als ein Katalysator der Versöhnung wirken und dazu dienen, die durch religiöse Differenzen entfachte Kriegsgefahr zu verringern.
Neben der Titelgeschichte gab es eine Spalte in Fettdruck.
REISE NACH JERUSALEM
Wie platziert man die religiösen Führer der Welt bei einer Konferenz so, dass alle den gleichen Status haben? An einem runden Tisch natürlich. Aber wie weist man vorweg die Führer aus? Moslems haben kein Gegenstück zum Papst. Soll der Patriarch von Moskau mit seiner zahlenmäßig überlegenen Gemeinde vor dem nominellen Oberhaupt der Orthodoxen, dem Patriarchen von Konstantinopel, rangieren? Oder, um ein scholastisches Rätsel der Art zu umschreiben, wie sie seinerzeit die Reformation auslöste: Wie viele protestantische Bekenntnisse können auf einer Nadelspitze tanzen? Und ist Tanzen bei einem solchen Anlass überhaupt erlaubt? Für Christen ist dies eine ernste Zeit, aber sie schließt den Einsatz von Chören und Orchestern oder sogar liturgischem Tanz nicht aus. Die Orthodoxen hingegen tolerieren keine Musikinstrumente in ihrer Liturgie, die Moslems haben keine Liturgie, und die Juden wollen nichts mit unziemlichen Feiern an ihrem Sabbat, dem Tag der Eröffnung, zu tun haben. Die Wahl eines Samstags steckte allein schon voller Schwierigkeiten. Ursprünglich wollte man das Problem umgehen, indem man den Start dieses historischen Unterfangens auf keinen der heiklen Tage für die jeweiligen Konfessionen legte (Freitag für Moslems, Samstag für Juden, Sonntag für Christen). Dann sagten die römischen Katholiken, sie hätten kein Problem mit einem Sonntag. Es gehe immerhin um
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