Die Keltennadel
Sie wieder hier sind, nehmen wir eine vollständige Aussage auf. Vielleicht sehen Sie die Dinge bis dahin in einem anderen Licht.«
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N ach einer sonderbaren Wendung der Ereignisse sieht sich ein Priester, der vor drei Tagen bei einem Überfall verletzt wurde, nun selbst Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Mord an zwei Frauen ausgesetzt. Der Geistliche hatte der Polizei bei der Untersuchung der beiden Tode geholfen. Pfarrer Liam Lavelle wurde am Freitag bei einem Zwischenfall in seinem Haus durch einen Messerstich verletzt; bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um das Mitglied einer Endzeitsekte, die als der Zehnte Kreuzzug bekannt ist. Die Polizei bestritt nachfolgend, dass innerhalb der Organisation ein Machtkampf stattfinden würde, obwohl einer ihrer Führer, ein gewisser James Turner, letzte Woche in London bei einer Art Hinrichtung getötet wurde. Die Sekte ist in Großbritannien und anderswo wegen ihrer aggressiv anti-islamischen Gesinnung berüchtigt.
Die Leichen von Sarah Glennon und Kara McVey wurden beide in diesem Monat und in ähnlicher Weise verstümmelt aufgefunden, was die Polizei zu der Annahme führt, dass ein Serienmörder im Raum Dublin sein Unwesen treibt. Da die Umstände der Morde rituelle Elemente aufweisen, zog man Pfarrer Lavelle, einen Experten für Sekten und Kulte, zu Rate. Die Leiche des ersten Opfers wurde in der Kirche St. Brigid in Kilbride gefunden, und der Fund wurde der Polizei von Pfarrer Lavelle gemeldet, der in der Gemeinde Kurat ist.
Seit dem Zwischenfall am Freitagmorgen sind neue Indizien aufgetaucht, in deren Folge die Polizei eine Anklage gegen Pfarrer Lavelle vorbereitet. Sobald sich sein Gesundheitszustand bessert, wird man ihn aller Voraussicht nach in Haft nehmen. Eine weitere Entwicklung in diesem Fall führte gestern Abend zur Vernehmung einer Bekannten des Priesters, der RTE-Journalistin Jane Wade. Letzte Woche wurde der Künstler Raymond O’Loughlin, der Lebensgefährte des zweiten Mordopfers, zwölf Stunden lang von der Polizei festgehalten. Anschließend entließ man ihn, ohne Anklage zu erheben. Inzwischen läuft im Nordwesten des Landes eine Großfahndung nach einem Mann, den die Polizei zu vernehmen wünscht. Die Behörden haben eine Beschreibung des Mannes veröffentlicht, von dem man weiß, dass er häufig die Gegend von Sligo besucht, und seinen Namen mit Greg Matchers angegeben. Wie ein Pressesprecher der Garda sagte, sei man bestrebt, Mr Mathers zu vernehmen, um ihn aus den Nachforschungen streichen zu können. (Außerdem in dieser Ausgabe: Heiliger Mord – S. 7; Warum der Glaube an das Tausendjährige Reich nicht verschwinden wird – S.
10.)
Jane hatte die Irish Times schon vor der Fahrt zum Flughafen gelesen, deshalb konnte sie den Fragen ihrer Kollegen in der Abflughalle zuvorkommen. Sie erklärte, das alles sei nur eine groteske Folge von Missverständnissen, und sie würde es sehr begrüßen, wenn sie auf der Reise nicht weiter darüber sprechen müsste. Alle im Team fühlten sofort mit ihr und spielten die Sache herunter, auch wenn sie offenkundig neugierig waren, wie Jane in diesen Fall und an einen katholischen Priester geraten war.
Im Flugzeug saßen Jane und Sheila McKenna nebeneinander und versuchten über Italien und die Sendungen zu reden, als wäre nichts geschehen. Nach einer längeren Gesprächspause fragte Sheila, wie Jane dazu gekommen war, Italienisch zu lernen.
»Als ich ein junges Mädchen war, fuhr einmal die ganze Familie zusammen in den Ferien in die Toskana«, antwortete Jane, froh um die Ablenkung. »Unsere Eltern besuchten ein paar von den Städten in der Gegend mit uns, aber die meiste Zeit blieben wir in der Nähe des Hauses, das wir gemietet hatten, spielten in den Feldern und stiegen auf Bäume. Eines Tages erkundeten wir einen Bach in einem kleinen Tal, und da trafen wir einen Jungen namens Antonio. Ich fand, er war der entzückendste Bursche, den ich je zu Gesicht bekommen hatte.«
»Wie alt warst du damals?«
»Zwölf. Er war fünfzehn.«
»Erste Liebe?«
»Und wie. Er war nicht nur klein, dunkelhaarig und hübsch, sondern er wusste auch, dass man das Herz einer Zwölfjährigen gewinnt, indem man ihr beibringt, wie man kleine Fische mit bloßen Händen fangt und Eidechsen aus Mauerritzen lockt.« Sheila lächelte. »Konnte er denn Englisch?«
»Nein, und das war der entscheidende Punkt. Wir konnten kein Wort Italienisch, und er konnte zwei Worte Englisch – Coca und Cola. Wir kommunizierten trotzdem
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