Die Keltennadel
an eine Plattenfirma weitergab. Der Rest war Geschichte oder vielmehr ein Märchen. Allerdings stimmte es, dass Becca das meiste Rohmaterial selbst aufnahm und ihre Studioerfahrung zu großem Vorteil einzusetzen wusste. Der entscheidende Punkt war jedoch, dass sie immer noch mit Tosh arbeitete, wo für sie ihn vermutlich gut bezahlte. Und je größer der Mythos Becca de Lacy wurde, desto wertvoller wurde seine Diskretion. Deshalb würde so ohne Weiteres nicht viel aus ihm herauszubekommen sein. Jane musste die Sache anders angehen.
Er beendete sein Telefongespräch und drehte sich wieder zu ihr um, dann schaute er mit schräg gelegtem Kopf zur Studiouhr über der Glasscheibe vor ihm. Er drückte auf einen Knopf, und die Lichter im Studio gingen an. Er warnte sie schon mal vor.
»Hören Sie, Tosh, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube, Becca ist in Gefahr.«
An seiner unergründlichen Haltung änderte sich nichts; Jane sah nun, dass auf seinem großen schwarzen T-Shirt die unpassenden Worte jede Kunst ist sinnlos prangten.
»Vor zwei Wochen«, sprach sie weiter, »erfuhr ich, dass eine religiöse Sekte mit dem Namen ›Die Hüter des Siebten Siegels‹ das Album Byzanz als eine Art Code benutzen. Sie betrachten Becca als eine Art Instrument oder Gefäß für den Kontakt zwischen ihnen und Gott. Das Problem ist, dass es ihnen weniger um Becca zu tun ist als um die Botschaft, für deren Übermittlung sie ihrer Meinung nach auserwählt wurde. Falls Becca spitzkriegt, was abläuft, und irgendwelche herabsetzenden Aussagen über die Anschauungen der Gruppe macht, dann fürchte ich, könnten sie ziemlich unangenehm werden.«
Sie hielt den Atem an.
Einen Moment lang glaubte sie, er würde zu lachen anfangen. Aber er tat etwas völlig anderes. Er sagte: »Ich hab’s verdammt noch mal gleich gewusst. Ich sagte, dieses ganze nachträglich hineingemischte Chiffrezeug führt nur dazu, dass es irgendwer für eine Botschaft des Himmels hält, wie das dritte Geheimnis von Fatima. Ich hab’s ihr gesagt, aber sie wollte nicht hören. Dieser Spinner von Edwards hat sie irgendwie versaut. Und dem Ganzen die Krone aufgesetzt hat dann das verborgene Stück. Das ist ihnen wahrscheinlich eines Abends eingefallen, als sie zu viel Karottensaft intus hatten, verdammt noch mal.« Er hielt brummend inne. Offenbar war er es nicht gewohnt, so viele Worte zu machen.
»Das verborgene Stück? Was ist das denn?«
»Ach, die Idee ist, dass man zusätzliche Stücke auf CDs packt, weil sie so viel Aufnahmekapazität haben. Man lässt eine lange Lücke nach dem letzten Lied und schreibt nichts davon auf die Plattenhülle. Eines Nachts hört man sich dann die CD an, man hat vielleicht ein bisschen was geraucht, die Musik ist seit zehn Minuten aus, und man genießt die Stille, und mit einem Schlag steht man senkrecht, weil noch eine Nummer in voller Lautstärke von der CD dröhnt. Sie haben es mir inklusive Anweisungen hereingeschickt. Nimm das mit auf das Masterband, elf Minuten und sechs Sekunden nach dem Ende des letzten Stücks. Basta.«
Jane sah auf die Uhr. Es war genau zehn.
»Was ist auf dem Stück?«
»Irgendwelche Worte und ein fürchterlicher Krach. Und so blöde Fledermausschreie oder was.«
»Fledermäuse? Sie meinen Aufnahmen von Fledermäusen?«
»Möglich. Könnten auch künstlich hergestellt sein. Das Zeug ist Ultraschall, im Bereich von sechzig Kilohertz. Für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, also was soll das Ganze? Andererseits hatte sie von Insekten bis Walen schon alles mögliche auf ihren Alben. Von den Walgeräuschen waren manche so tief , dass man sie praktisch nicht mehr wahrnimmt. Man fühlt sie mehr, als dass man sie hört.«
»Sie haben die Aufnahme nicht zufällig hier, oder?«
»Nein. Das ist alles bei Becca. Sie vergibt ihr Material in Lizenz an die Plattenfirma, wussten Sie das?«
»Ich hab so was gehört. Haben Sie die aktuelle CD hier?«
»Nein.«
»Möchten Sie sonst noch etwas über Beccas Aktivitäten in der letzten Zeit sagen?«
»Nein.« Tosh war wieder ganz der Alte.
Sein Telefon läutete. Er schwenkte weg von ihr. Gleichzeitig kam eine Gruppe Leute zur Tür herein, dieselben Burschen, die sie bei den Videoaufnahmen am Kai gesehen hatte. Jane winkte ihnen zu, als sie an ihr vorbei ins Studio weitergingen. Es war Zeit, sich zu verabschieden.
Als sie auf der Treppe war, läutete ihr Handy, und sie meldete sich automatisch. Erst dann fiel ihr ein, dass sie vorgehabt hatte, es den ganzen
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