Die Keltennadel
hervorstreckte, erinnerte er sie an einen gotischen Wasserspeier. »Er sagte, er ist in einer halben Stunde zurück, falls jemand fragt.« Darauf bekam er einen Hustenanfall und zog sich ins Haus zurück.
Jane schlenderte eine Weile an den Stationen des Kreuzwegs entlang. Sie bewegte sich vorsichtig, unsicher, ob sie in der Nähe eines von der Polizei gesperrten Tatorts überhaupt herumlaufen sollte. An der sechsten Station blieb sie ein wenig länger stehen. Sie zeigte eine Frau, die ein Tuch an das blutüberströmte Gesicht von Jesus hielt. Jane trat näher und las die Inschrift auf dem Messingschild im Rahmen: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch.
Das, fiel ihr ein, war eines jener Ereignisse, von denen in der Bibel nicht berichtet wird, an das die Katholiken jedoch glauben. Und das Tuch mit dem Abdruck von Christi Gesicht war vermutlich zu einer der ersten Reliquien geworden, auf deren Besitz verschiedene Kirchen und Dome im Mittelalter Anspruch erhoben. Gab es nicht auch Stücke von seinem Leichnam und Erinnerungen an die Kreuzigung, die in Reliquienschreinen in ganz Europa auftauchten… Haare und Fingernagelschnipsel, Dornen, das Holz des Kreuzes, sein Lendentuch, selbst die heilige Vorhaut! Sie verzog das Gesicht. Bei ihrem letztjährigen Spanienurlaub hatte sie in einer jener Kirchen, in denen puppengesichtige Statuen von Jungfrau und Kind standen, einen Glaskasten gesehen, der in einen vergoldeten barokken Altaraufsatz eingelassen war. In dem Kasten lagen drei Eisenspitzen mit gewölbtem Kopf – jawohl, die bei der Kreuzigung benutzten Nägel! Und was war mit jenen Phiolen mit dem Blut irgendeines Heiligen, das sich ab und an verflüssigte? Das war in Neapel, oder? Und Marias Milch und ihre Menstruationsbinden genauso. Jetzt musste sie lächeln.
Plötzlich kam ihr in den Sinn, dass Raymond O’Loughlins Ausstellung demselben makabren Instinkt der Menschen Vorschub leistete. Reliquien von prominenten Toten – Berühmtheiten, die unter gewalttätigen oder absonderlichen Umständen gestorben waren. Eine Diashow mit Fotos von John Lennons Autopsie, die von einem Bild zum anderen schaltete, während im Hintergrund »Imagine« lief; Prinzessin Dianas blutgetränkte Unterwäsche an einem Mannequin, das von einer Batterie unablässig blitzender Kameras umringt war; eine von Kurt Cobain benutzte Spritze in einem Rahmen an der Wand, darunter eine Krankenbahre mit Rädern, die vor Riemen und Fesseln nur so strotzte und bei der Vollstreckung zahlloser Todesurteile durch die Giftspritze in den USA eingesetzt worden war. Das alles waren zumindest recht grelle Mahnungen. Und Jane hatte der Anblick eines Teddybärs gerührt, der einen Zipfel des Gefängnisleintuchs umklammert hielt, auf dem der dreifache Mörder Brendan O’Donnell geschlafen hatte.
Aber dann hatte O’Loughlin sie mit kindlicher Freude in eine Installation geschoben, in der sie unvermittelt im Dunkeln stand, während nach Verwesung riechende Knochen und Körperteile an ihr Gesicht streiften. Das Gustostück dieses Gruselkabinetts war ein konservierter Leichnam, von dem der Künstler behauptete, er habe ihn aus einem Dritte-Welt-Land eingeführt, dessen Gesetze den Handel mit Toten zu medizinischen Zwecken nicht verhinderten.
Aber das waren nur makabre Spaße. Was sie an der Ausstellung »Cryptology« wirklich anstößig fand, waren die Gläser und Phiolen mit inneren Organen, Körperflüssigkeiten und Exkrementen, die angeblich von bekannten lebenden oder toten Persönlichkeiten stammten. Und hatte O’Loughlin nun genau solche Reaktionen wie ihre provozieren wollen?
Sie wusste nicht, welche Manipulationsleistung sie mehr bewundern sollte – mittelalterliche Reliquien, mit denen man den Leuten das Geld aus der Tasche zog, indem man auf ihre Gutgläubigkeit und ihr Bedürfnis nach sentimentaler Frömmigkeit baute, oder den »Künstler« des dritten Jahrtausends, der einen schnellen Gewinn machte, indem er Leute schockierte, die sich für intellektuell hielten. Und waren seine Kunstprodukte denn echter als der Inhalt eines Reliquienschreins aus dem 12. Jahrhundert? Spielte das überhaupt eine Rolle?
Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen – hinter ihr war jemand. Sie drehte sich langsam um und sah sich einer der Säulen gegenüber, die den Seitengang vom Mittelschiff trennten. Von der anderen Seite kamen Atemgeräusche. Sie schob sich seitwärts an der Säule vorbei, ohne sie aus den Augen zu lassen. Eine Kirchenbank kam ins Blickfeld, und
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