Die keltische Schwester
Feldern. Wanderer aus anderen Teilen des Landes kamen vorbei und berichteten von dem, was sie gesehen und gehört hatten. Sie waren gerngesehene Gäste, denn Nachrichten waren selten in dem dünnbesiedelten Gebiet. Natürlich gingen auch sie nie fort, ohne Neuigkeiten mitzunehmen. Wer gestorben war, wie viel Kinder geboren wurden, wie die Ernte, die Jagd, der Fischfang in diesem Jahr waren, welches Mädchen, welche Frau bereit war, sich einen Gefährten zu suchen. So kam auch die Meldung von der gewaltigen Tat in das Dorf.
An einem heiligen Platz jenseits des Waldes an dem kleinen Meer hatten Hunderte von Männern und Frauen einen mächtigen Stein aufgerichtet. So, berichteten die Wanderer ehrfürchtig, war ihr heiliger Ort schon von weitem sichtbar.
Wie das so ist, wie es schon immer war und immer sein wird, hatten die Menschen in dem Dorf an der wilden Küste plötzlich das Bedürfnis, auch eine solch hervorragende Stätte vorweisen zu können. Darum taten sie sich zusammen, und mit Ausdauer, harter Arbeit, unter ungeheuren Anstrengungen und atemlosem Gesang errichteten sie den Stein, einen grauen, grob behauenen Granitblock, der weithin sichtbar an der Landzunge stand, die in das Meer hineinragte. Er stand genauan der Stelle, wo die Ströme der Kraft es möglich machten, durch den Schleier in die Andere Welt zu dringen.
An diesem Stein trafen sie sich, wenn Tag und Nacht gleich lang waren, in der kürzesten Nacht und der längsten des Jahres, wenn ein Kind geboren wurde, ein Mensch starb, wenn die Ernte gut oder der Fischfang reich war. Sie schmückten den Platz mit Blumen und Muscheln, mit glatten Kieselsteinen und bunten Federchen. Und sie dankten der Erde für ihre Gaben.
6. Faden, 1. Knoten
Wulf begegnete mir in der Firma kühl und geschäftsmäßig. Meistens trug er seine Projektleiter-Maske, einen Gesichtsausdruck von konzentrierter Aufmerksamkeit, der den Eindruck hinterließ, dass er nur darauf wartete, wann ein anderer sich eine Blöße gab. Verstohlene Blicke gab es nicht, was mir ganz recht war. Bloß keine Verwicklungen am Arbeitsplatz! Allerdings fragte er einmal an, ob ich Lust habe, am Wochenende mit ihm wegzufahren, aber da ich gerade in den Umzugswirren steckte, musste ich ablehnen.
Dann, zwei Monate später, Ende Mai, war es schließlich so weit, dass das Bretagne-Projekt ins Laufen kommen sollte. Alle Verträge waren unterzeichnet, die Voraussetzungen, wenn nicht geschaffen, so doch definiert. Ich nahm zusammen mit dem Projektteam an einer Sitzung teil, bei der Umfang und Vorgehensweise mit den Auftraggebern diskutiert werden sollten.
Anfang des letzten Jahres hatte der Präfekt des Finistère beschlossen, einen Ort namens Plouescat mit seinem Umland für den Tourismus attraktiver zu gestalten. Es waren dafür imHerbst vom Staat Mittel bewilligt worden, und die Gemeinde hatte dann mit großer Mehrheit entschieden, dass nicht das Museumsprojekt, sondern der Freizeitpark den Zuschlag erhalten sollte. Der Betreiber, ein Unternehmen, das bereits auf eine ganze Reihe ähnlicher Anlagen verweisen konnte, hatte wie erwartet ein Konsortium mit Planung, Abwicklung und Bau beauftragt, bei dem KoenigConsult die Federführung übernehmen sollte. Finanziert werden sollte die Anlage zum Teil aus den staatlichen Mitteln, aber es hatten sich auch private Finanziers eingefunden, die wichtigsten waren eine bretonische Bank, ein Fährunternehmen, Gaz de France und einige örtliche Firmen, die sich von dem Bau einen wirtschaftlichen Vorteil erhofften. Sie alle waren in einem Lenkungsgremium vertreten, dem insbesondere wir später monatlich zu berichten hatten.
Die französischen Herren gaben sich sehr nüchtern, die Stimmung war konzentriert und erwartungsvoll, als Dr. Koenig den Plan aufrollte.
»Vorgesehen ist als Kernstück der Anlage an dieser Stelle die überdachte Badelandschaft mit einem Außenbereich in Richtung Strand. Die gesamte Front wird verglast, um den Blick auf das Meer zu gewährleisten. Wir werden einen Bereich mit vier Pools innen und zwei weiteren außen haben, dazu hier, hier und hier Sauna, Whirlpool und Dampfbäder. Angeschlossen ist eine tropische Parklandschaft, die Galerie, die sich an der Fensterfront entlangzieht, ist für die Gastronomie vorgesehen …«
Ich hatte die Pläne bereits gesehen, und als die technischen Angaben, die mein Französisch sowieso überforderten, folgten, merkte ich, dass ich schon wieder angefangen hatte, Schnörkel auf meine Kopie der Unterlagen zu
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