Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
Kraterseen, dichte Wälder, deren kahle Bäume sich unter der Last ihrer weißen Kronen beugten, und gelegentlich kleine Siedlungen, wo sich dunkler Rauch aus Schornsteinen kräuselte. Täler, Hügel und Äcker waren unter einer dicken Schneeschicht begraben. Die wenigen Wolken am Himmel wirkten wie vereinzelte Pinselstriche auf einer Leinwand von zartem Blau.
Endriel dachte an die milden Winter in Olvan, wo sie sich über jeden Zentimeter Schnee gefreut hatte und zusammen mit ihren Schulfreunden auf Schlitten durch die Grasmeere gezogen war.
»Kaum zu glauben, oder, Kapitän?« Mikos blasses Gesicht strahlte sie an. »Eben noch Sommer und jetzt das!«
Sie nickte. »Man könnte meinen, wir wären auf einer anderen Welt gelandet.«
»Mir wäre eine wärmere Welt lieber.« Xeah versteckte ihre Hände in den gegenseitigen Ärmeln ihrer Robe. »Mein Volk hat nicht viel übrig für Eis und Schnee.«
»Hauptsache, du fällst nicht plötzlich in Winterstarre.«
Xeah beugte den tätowierten Schädel. »Solange das Heizsystem des Schiffes nicht ausfällt, braucht ihr euch diesbezüglich keine Gedanken machen. Aber ich fange an, Keru um sein Fell zu beneiden.«
Der Skria am Steuer grinste.
»Haben Sie gut geschlafen, Kapitän?«, fragte Miko.
»Sogar überraschend gut, wenn man den Ärger von gestern bedenkt. Habt ihr schon gefrühstückt?«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass wir mit knurrenden Bäuchen darauf warten, dass du endlich aufstehst!« Nelen sprang von Mikos Schulter in die Luft und blieb vor Endriels Gesicht hängen. »Aber wir haben dir was übriggelassen.«
»Also krieg ich die Reste. Toll. Warum habt ihr mich nicht geweckt?«
Nelens Lächeln war so unschuldig und rein wie der Schnee draußen. »Och, du hast so friedlich geschlafen. Ich dachte, wenn ich dich wecke, kriege ich wieder ein Kissen um die Ohren.«
»Zu liebenswürdig, Nelen. Also: Wann werden wir Kirall erreichen?«
»In ungefähr einer Viertelstunde«, brummte Keru.
»So bald schon?«
»Wir sind die ganze Nacht durchgeflogen«, erklärte er. »Hätten wir nicht andauernd Schlenker machen müssen, wären wir schon längst da.«
»Und gab es irgendwelche Anzeichen von ... ihr wisst schon ... Weißmantelschiffen?«
Kerus Kopfschütteln ließ seine Mähne wallen. »Keine. Wir sind das einzige Schiff am Himmel.«
»Um so besser.« Endriel wandte sich an alle: »Also, wie gehen wir vor? Wir können schließlich nicht einfach in der Stadt landen ...«
»Nein.« Nelen grinste. Sie nahm auf der Schulter ihrer Freundin Platz und faltete ihre Flügel. »Wir spielen das alte Schiff-versteckt-sich-im-Wald - Spiel, wie gestern Nacht.«
»Wir werden zu Fuß in die Stadt marschieren«, brummte Keru. »Es wird das Beste sein, uns in zwei Gruppen aufzuteilen. Eine bleibt an Bord und passt auf das Schiff auf, die andere macht unsere Besorgungen in Kirall.«
»Gut. Einverstanden. Nelen und ich werden gleich eine Liste mit allen nötigen Sachen aufstellen und ...«
»Nicht nötig, Kapitän! Das habe ich schon gemacht!«
»Sehr gut. Danke, Miko. Wo ist eigentlich Kai?«
Nelen zuckte mit den Achseln. »In seinem Quartier schätze ich. Vorhin beim Frühstück war er noch bei uns. Er sagte, er wolle meditieren.«
»Ich werde ihm Bescheid sagen.« Bevor sie ging, wandte sich Endriel wieder der weißen Welt jenseits der Brücke zu. »Sieht so aus, als müssten wir uns alle warm anziehen.«
Nach einem eiligen Frühstück, bestehend aus zwei belegten Broten, einem Apfel und kaltem Pfefferminztee, kehrte Endriel zurück aufs Oberdeck und klopfte an die Tür von Kais Quartier. Als sie eintrat, saß er im Schneidersitz auf dem Diwan. Seine linke Hand berührte die Kristalle auf der Armschiene. Endriel hätte schwören können, die Edelsteine in irgendeinem inneren Licht leuchten zu sehen. Als er sie bemerkte, öffnete Kai die Augen und lächelte entspannt. Sie hätte sich ohrfeigen können, weil sie sich so unverschämt darüber freute.
»Guten Morgen, Endriel.«
Sie erinnerte sich an ihren Vorsatz, in ihm allein einen zahlenden Kunden zu sehen; jemanden, der Geld in die Kasse brachte. Doch sie konnte es nicht. Vielleicht lag es an seinen Augen, seiner freundlichen, sanften Stimme, seiner ruhigen, selbstbewussten und trotzdem bescheidenen Art oder an den ungewöhnlichen Umständen, unter denen sie einander begegnet waren. Irgend etwas davon, möglicherweise auch alles gleichzeitig, bewirkte, dass Endriel Naguun, einundzwanzig Jahre alt und anerkannte
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