Die Kenlyn-Chroniken 01 - Drachenschiffe ueber Kenlyn
es war klar, dass dies nicht bloß als Kälteschutz diente. Kai stand bereits neben dem Skria. Endriel drehte sich zu Nelen. »Mach keinen Blödsinn hier drinnen!«
Nelen lächelte. »Mach keinen Blödsinn da draußen!«
Endriel zog eine schwarze Wollmütze aus der Manteltasche und setzte sie auf. »Wenn alles gut geht, sind wir in spätestens zwei Stunden wieder da.«
»Hier«, sagte Xeah und reichte Endriel ein gefaltetes Stück Papier. »Eine Zeichnung des Stadtplans. Ich hoffe, sie ist einigermaßen akkurat.«
»Danke.« Endriel steckte das Papier in die Innentasche ihres Mantels.
Xeah blinzelte. »Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen.« Sie zog einen kleinen Geisterkubus aus ihrer Robe und warf ihn Endriel zu. »Falls es Schwierigkeiten gibt, werden wir euch über den Kristall kontaktieren.«
Endriel nickte ernst und ließ den Kubus in ihrem Mantel verschwinden.
Die Draxyll zwinkerte ihr zu. »Bitte sorg dafür, dass Keru nicht unser ganzes Geld für rohes Fleisch verjubelt. Er denkt selten an uns Vegetarier.«
»Mache ich«, versprach Endriel lächelnd. Sie beeilte sich, dem Skria und Kai zu folgen, die bereits die Wendeltreppe hinabstiegen.
Syl Ra Van, Gouverneur von Kenlyn und Regent über dreihundertundsechzig Millionen intelligente Lebewesen, träumte, und in seinem Traum zuckten die Zeitströme von möglichen Zukünften an ihm vorbei, wie Blitze in der Nacht. Diagramme, leuchtend wie bunte Edelsteine, tauchten in seinem Bewusstsein auf und zeigten Prognosen und Tendenzen des Geschehens auf Kenlyn, anhand derer Syl Ra Van seine Entscheidungen traf:
∙ Berichte aus Daraked waren eingegangen: Erhöhte Aktivität von Piraten in dem Sektor. Er konnte diese Gefahr sofort eliminieren, doch es war notwendig, sie zu erhalten, um die Klingen der Friedenswächter scharf zu halten.
∙ Missernten in der Provinz Nadu-Kada nahe des Niemandslands. Das erforderte eine Umleitung der Versorgungslinien, wenn er nicht Dutzende Lebewesen zum Hungertod verurteilen wollte. Sie zu retten bedeutete, die Loyalität seiner Bürger zu garantieren.
∙ Eine von ihm ins Leben gerufene archäologische Ausgrabung bei Xarul hatte einen unbekannten Nexus ans Licht gebracht, fast tausend Jahre alt. Sobald sein Zwilling gefunden worden war, konnte der Gouverneur das Netz der Nexus-Portale weiter spinnen. Gut. Mehr Portale bedeuteten mehr Macht.
Diese und tausende andere Fakten nahm er in sich auf, speicherte/analysierte/registrierte sie. Und noch während er dies tat, korrespondierte der Gouverneur gleichzeitig über sechshundert Geisterkuben mit seinen Untergebenen, gab Befehle/forderte weitere Informationen an. Syl Ra Van war an hunderten Orten gleichzeitig, seine Augen und Ohren waren überall, und wenn es sein musste, auch seine Stimme.
Er nahm Lebewesen/Klima/Flora/Fauna/Bewegungen der Monde/Planeten und verwandelte sie in nackte Zahlen und Formeln, so klar wie Kristall. Bewegte sie im anmutigen, reinen Tanz der Mathematik. Der Faden der Zukunft wurde gewoben.
Doch etwas bedrohte die Stabilität aller möglichen Zukünfte.
Es war das Bild des Menschenjungen, das ihm im Traum gezeigt worden war. Es war die Bedrohung durch den Schattenkult, der trotz aller Kalkulationen drei Jahrhunderte überdauert hatte; im trügerischen Schlaf eines Raubtiers. Die Logik ließ nur einen Schluss zu: Der Junge aus der Vision und das Wiedererstarken des Schattenkults hingen unmittelbar zusammen, waren eins.
Syl Ra Vans Schöpfer hatten ihn mit der Fähigkeit ausgestattet, eine Nachricht in die Vergangenheit zu schicken, unter Aufbringung von Energien, die ihn letztendlich vernichten würden.
Alle Hochrechnungen/Analysen/Theorien deuteten darauf hin, dass er selbst die Aufnahme des Jungen von der Zukunft aus in die Gegenwart gesandt hatte. Syl Ra Van wusste, dass er demnach in dieser unbekannten Zukunft nicht mehr existent war: Um die Warnung zu schicken, hatte er sich selbst vernichten müssen. Jetzt lag es an seinem gegenwärtigen Ich, den Lauf der Geschichte zu verändern, oder er würde wieder sterben, gefangen in einer Ewigkeitsschleife, einem Nexus der Zeit. Der Mensch musste gefunden, die Unbekannte in der Gleichung beseitigt werden.
Ein neuer Kommunikationskanal wurde geöffnet. Das Gesicht von Admiral Andar Telios materialisierte sich vor Syl Ra Vans geistigen Augen: Eine Echtzeit-Übertragung vom Friedenswächterflaggschiff Dragulia . Der dunkelhäutige Mensch verneigte sich vor der Projektion des Gouverneurs, die er in
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