Die Ketzerbibel
ein Mädchen, einen eigenen Lehrer gehabt hatte. «Was hast du bei ihm gelernt?»
«Was man als Frau eben so lernt.»
Das konnte nicht so viel gewesen sein: Schönschrift, erbauliche Literatur, Gedichte und dergleichen. Aber immerhin.
Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Carolus’ Gesicht war ihr zugewandt, sein ganzer Körper war ihr zugewandt, aufmerksam, offen, ruhig; er wirkte wie einer, auf den man sich verlassen kann, eine feste Mauer, ein sicheres Haus. Er hatte sich so bemüht, sie wollte ihm gern vertrauen. Vielleicht sollte sie ihm alles erzählen; sie hatten so vieles gemeinsam; er würde verstehen. Sie zögerte, schaute ihn an, forschend, abwägend, öffnete den Mund. Doch genau diesen Moment wählten die
Zinganes
, um eine lebhaftere Musik anzustimmen. Der Junge stieß einen heiseren Schreiaus, seine Stimme wurde lauter, rauer, der Gesang fordernd und wild. Er klatschte mit den Händen im Takt.
Unbemerkt von Arzt und Patientin, waren nach und nach die anderen Beginen in den Garten gekommen. Die Weberinnen strömten aus dem Weberhaus.
«Unerhört! Jetzt bekommt sie auch noch Musik vorgespielt!», zischte Gebba. «Sie wird verhätschelt und verwöhnt! Wasser und Brot und harte Arbeit, das wäre angemessen für sie.»
Doch ihre Schwestern hörten nicht auf sie. Sie freuten sich an der Musik. Hatten die Melodien zuerst fremd und ein wenig schläfrig geklungen, so erkannten die Schwestern jetzt so etwas wie die beliebte Farandole darin, die den Flug der Kraniche nachahmte. Es bereitete ihnen Mühe, nicht im Takt den Kopf zu wiegen. Es war ihnen beinahe unmöglich, nicht die Hände zu heben und mit den Fingern den Flügelschlag des großen Vogels nachzuahmen. Es kam ihnen schier ausgeschlossen vor, nicht die Hüften zu bewegen und den Oberkörper zu biegen. Es war ihnen eine zu große Anstrengung, die Füße still zu halten. Zu mächtig war die Musik.
Annik hatte sich auf der Küchentreppe niedergelassen und schlug mit einem Holzlöffel an eine Pfanne, Magdalène begann zu tanzen. Schneller und schneller spielte die Alte. Der Junge sang und klatschte wie ein Besessener. Renata kam aus dem Stall und ergriff ihre Freundin Manon am Arm. Sie wirbelten herum, dass die Röcke flogen. Guilhelme forderte Justine auf, Philippa tanzte mit Marthe. Sogar die alte Auda hatte ihre Röcke angelupft und hüpfte um den Brunnen wie ein übermütiges Kind. Alix hatte ihren Platz am Tor verlassen. Sie lehnte an einer Mauer und tappte mit dem rechten Fuß im Takt.
Juliana kam aus ihrem Haus und versuchte, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Aber sie war über dem Trubel nicht zuhören. Anne stand hinter ihr und lachte über das ganze Gesicht. Wütend drehte Juliana sich nach ihr um, ihr Grinsen verschwand sofort. Gezwungenermaßen erinnerte sich Anne ihrer Pflichten als Subpriorin. Sie steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff los.
Die Musik erstarb abrupt. Die Tanzenden blieben mitten in der Bewegung stehen.
«Was ist das für ein babylonisches Getobe?!», rief die Meisterin aus. «Zurück an eure Arbeit!» Sie klatschte in die Hände. Die Beginen besannen sich und verschwanden in Webhaus und Stall, in Küche und Keller. Ein paar Gassenjungen, die rittlings auf der Mauer hinter dem Stall saßen, sprangen enttäuscht wieder auf die Straße hinunter.
«Nun, Medicus? Bist du zufrieden? Hast du genug Aufruhr gestiftet?», wandte sich Juliana zornig an Carolus.
«Ich bitte um Verzeihung, Meisterin. Es ist etwas aus den Fugen geraten.»
«Das kann man wohl sagen», bemerkte sie. Ihr Finger wies zum Tor. Carolus sprang auf, winkte den Musikern, verbeugte sich vor Danielle und vor der Meisterin und verließ den Konvent.
In der Rue de Courtrasse stand ein kleines Grüppchen von Neugierigen. Sie machten lange Hälse. «Was war denn da drin los? Was hatten die zwei
Zinganes
bei den frommen Schwestern zu suchen?», wollte ein Nachbar wissen.
«Man hat ihnen das richtige Beten beigebracht», antwortete Carolus.
Die Alte lachte zahnlos.
«Ich hoffe, wir haben dir keine Schwierigkeiten gemacht», sagte der Junge. «Aber wir sind einfach nicht für lauwarme Unterhaltung gemacht. Ihr
gadsche
, ihr haltet eure Seelen in Käfigen. Und diese Frauen da, sie sind wie Vögel mit gestutzten Flügeln in Käfigen.»
Als Abbé Grégoire davon hörte, war er entrüstet: «Das ist ja wohl der Höhepunkt der Sittenlosigkeit! Zigeunermusik im Beginenkonvent! So sieht also deren Vorstellung von einem gottgefälligen
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