Die Ketzerbibel
den Sternbildern, die den betreffenden Menschen unter ihrem Regime haben, was zu außerordentlich befriedigenden Ergebnissen führen kann, wenn die Methode genauestens beachtet wird. Heute jedoch möchte ich euch ein Heilmittel vorführen, das manchem wie ein Wunder vorkommen mag, ein ganz erstaunliches Heilmittel deshalb, weil es keine stofflichen oder irgendwie messbaren Bestandteile besitzt und daher auch die enge Verbindung zwischen Körper und den vier Einheiten der Seele beweist, ohne dass wir jedoch … ähem, nun, kurz: la musica, die Musik. Die antiken Autoren, deren Schriften uns dank Meister Constantinus Africanus wieder zur Verfügung stehen, obschon sie im Dunkel der Geschichte bereits verloren schienen, haben dieses Mittel bereits beschrieben, nachdem ja sogar wilde Tiere und wütende Geisteskranke, die der Vernunft und Logik an sich nicht zugänglich sind, sich damit beruhigen lassen und folgsam werden. Allerdings, wie ihr wisst, war Platon der Meinung, dass Menschen, die dem Staat und der Gesellschaft nicht nützen, auch nicht gepflegt werden sollen, während die arabischen Autoren dem am Geiste Kranken mit Milde und Fürsorge begegnen, da …»
Bruder Nikolaus’ Stimme ist einschläfernd in ihrem gleichmäßigen Auf und Ab. Er ergeht sich in langen, gewundenen Sätzen, deren Ziel er selbst oft aus den Augen verliert.
«Ssstt! Alessa! Sssst!» , flüstert es vom Fenster her. Einer der jungen Männer von drüben hat sich in den Frauentrakt geschlichen und winkt. Sie schaut ihn nur kurz aus den Augenwinkeln an und schüttelt unmerklich den Kopf.
«Alessa!»
Sie ist hübsch in ihren weißen Kleidern mit den langen, dunkelbraunen Locken und diesen lebhaften Augen. Und sie ist ernsthaft und ehrgeizig. Bruder Nikolaus ist zwar ein Langweiler, aber er weiß ungeheuer viel, und sie möchte nichts verpassen.
Ein zu einem Vogel gefaltetes Pergament segelt durch die Luft und trifft sie am Hinterkopf. Bruder Nikolaus hat die Bewegung wahrgenommen und blinzelt kurzsichtig in die Runde.
«Wie bereits gesagt: Abu al-Walid Muhammad ibn Ahmad ibn Muhammad ibn Ruschd, den wir auch als Averroes kennen, den Kommentator …»
Der Zettel steckt in ihren Haaren fest, und sie zieht ihn heraus, faltet ihn unter der Bank auf und muss lachen: Da ist eine perfekte Karikatur von Bruder Nikolaus mitsamt Knollennase, dickem Bauch und Sandalen. Sie dreht sich zu dem Zeichner um, der grinst und gestikuliert. «Gehst du nachher mit mir in die Stadt, einen Met trinken?» , heißt das.
«Alessa!» Bruder Nikolaus steht vor ihr und schnappt sich den Zettel. «Was ist das?» Er schaut enttäuscht. «Meine beste Schülerin! Gerade von dir hätte ich das nicht gedacht.» Der Zettel verschwindet in seinem Ärmel, der Kopf am Fenster taucht ab.
Ein Patient wird hereingeführt. Zwei starke Wärter sind nötig, um ihn festzuhalten. Er stößt unartikulierte Laute aus und wehrt sich, hat Schaum vor dem Mund. Da hebt Bruder Nikolaus eine Panflöte an die Lippen und spielt eine friedvolle Hirtenweise. Die Sonne perlt förmlich durch die Noten, man sieht die Lämmer springen. Und der Patient beruhigt sich augenblicklich. Er lächelt, gluckst und grapscht nach der Flöte. Der Mönch gibt sie ihm. Der Kranke setzt sie an die Lippen und spielt, keine Melodie, nicht einmal etwas annähernd Harmonisches. Er tutet hinein, ist aber fröhlich und läuft seinen Wärtern nach, friedlich und ohne Angst.
«Da seht ihr es» , sagt Bruder Nikolaus. «Ich wusste allerdings, dass er Töne zu machen versteht. Sonst hätte ich ihm die Flöte nicht
gegeben. Wenn sie frustriert werden, sind sie sofort wieder unleidlich. – So, ihr könnt zum Essen gehen. Alessa, du bleibst doch noch und hilfst mir, einige Texte für den Unterricht zu kopieren?» Er hat ihr vergeben.
Sie erinnerte sich an etwas, er war sich ganz sicher. Es musste etwas Gutes gewesen sein, denn ihre Mundwinkel hoben sich an, die Falte auf ihrer Stirn hatte sich geglättet.
«Woran hast du gedacht? Es ist dir etwas eingefallen, nicht wahr?»
«Ich habe an einen Lehrer gedacht, den ich hatte, einen fetten, alten Benediktinermönch. Er war ein sehr kluger Mann. Das Laufen ist ihm schwergefallen, doch er hat es sich nicht nehmen lassen, jeden Morgen die Leprakranken vor der Stadt zu besuchen. Zwei junge, kräftige Mönche waren nötig, um ihm auf sein Maultier zu helfen!»
Das war ein Fortschritt! Nun wusste er mehr: Sie musste aus einem reichen und guten Hause stammen, wenn sie,
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