Die Ketzerbibel
bedenken.
Das Massiv de la Sainte Baume war der ausgedehnteste der provenzalischen Gebirgszüge. Er stieg von Süden her stetig an und brach auf der Nordseite wie eine gigantische steinerne Welle, ein immenser grauweißer Brecher, der über die grünen Täler darunter zu stürzen drohte. Die Grotte, in der die Heilige ihre Sünden gebüßt haben sollte, war in vorchristlicher Zeit einer Fruchtbarkeitsgöttin geweiht, ein angemessener Aufenthaltsort für eine «Prostituierte».
Die Wallfahrer näherten sich dem Heiligtum von Nordosten her. Methusalem wurde beim Aufstieg immer langsamer. Als es steil wurde und der Pfad über Geröll ging, stemmte er seine knochigen vier Beine gegen den Untergrund und schrie empört. So viel Carolus auch zerrte und auf ihn einredete, er weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Schließlich ließ Carolus ihn an einem Wasserloch zurück. Calixtus band seinem Maultier die Vorderbeinezusammen, raffte seine Kutte und stolperte hinter dem liebeskranken Medicus her.
Unterhalb der schroffen grauen Klippen stand ein Kloster, das sich den Felsen angeglichen hatte wie eine Zikade der Rinde des Baums: Glatt und grau erhoben sich die Mauern aus den Schatten. Ein Weg durch einen Buchenwald führte zur letzten Wohnstätte Magdalenas, ausgetreten von Tausenden von Pilgern.
Die Grotte empfing sie still und kühl. Wände und Decken waren von rosenfarbenem Kalk überzogen, dessen versteinerte Tropfen an Zuckerguss auf einem Dreikönigskuchen erinnerten. Am Eingang, dort, wo das Sonnenlicht in die weite Öffnung fiel, hatten Algen und Moose den Überzug grün gefärbt. Wenige Schritte vor ihnen erhob sich ein schlichtes Grabmahl aus weißem Marmor. Von irgendwo drang ein leises, stetiges Tropfen an ihr Ohr. Bruder Calixtus bekreuzigte sich und kniete nieder.
«Ich dachte, du glaubst nicht daran, dass die heilige Magdalena hier war?», flüsterte Carolus und kniete ebenfalls.
«Wir können nicht wissen, nach all dieser Zeit, nicht wahr, ob es Magdalena war oder eine andere Eremitin, aber es ist ein heiliger Ort. Das spüre ich. Ein Ort von großer Reinheit», flüsterte der Mönch.
Eine Gestalt erhob sich von einem Stuhl neben dem Grabmahl, ein Dominikaner, ein bartloser junger Mann. Er bot ihnen parfümierte Kerzen und Weihrauchkügelchen an und zeigte ihnen den hinteren Teil der Höhle, eine rohbehauene Felsnische, in der jemand geschlafen hatte, Spuren einer Feuerstelle und eine Quelle. Als er mit ihnen hinaustrat ins Sonnenlicht, da fragte Carolus ihn: «Bruder, hast du vielleicht in den letzten Tagen eine einzelne Begine gesehen?» Er beschrieb sie ihm. «Wenn du sie siehst, dann sag ihr bitte, dass ich in Toulon auf sie warte. Am Hafen.Sie soll nicht wegfahren, ohne dass sie noch einmal mit mir gesprochen hat.»
Der junge Mönch lächelte. «Habt keine Sorge. Ihr habt sie sehr gut beschrieben. Wenn sie hier auftaucht, dann wird sie Eure Nachricht erhalten.»
«Und nun?», fragte Carolus seinen Begleiter.
«Wir warten. Habt ihr einen Schlafplatz für uns?», fragte Calixtus den Dominikaner.
«Ja, sicher. Das Kloster unterhält ein Gästehaus für Pilger. Geht dort entlang und fragt nach Bruder Petrus. Er wird euch Plätze zuweisen.»
«Seid uns willkommen!», begrüßte sie Bruder Petrus. «Im Schlafsaal sind noch einige Plätze frei. Sucht euch einen aus, der euch gefällt. Essen gibt es nach dem Vespergottesdienst. Übernachtung und Verpflegung kosten drei Sou pro Person.»
«Das ist ein stolzer Preis für die Benutzung eines Strohsacks und eine wässerige Suppe», flüsterte Carolus. «Die Pilger sind wohl ein gutes Geschäft!»
«Deshalb lassen die Anjou von Neapel auch die große Basilika in Saint-Maximin bauen, eine Investition in die Frömmigkeit, die auch weltliche Quellen sprudeln lässt», raunte Calixtus zurück und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Bruder Petrus sah sie streng an. «Ihr dürft auch gerne mehr geben – als Spende für die Armen.»
Carolus’ Befürchtungen bestätigten sich nicht. Das Abendessen war gut und reichhaltig. Am dritten Abend gab es sogar Hasenpastete und Kürbisragout, dazu gutes helles Brot. Calixtus brach sich ein Stück von dem Laib ab und reichte ihn an seinen Nachbarn zur Linken weiter. Es war ein junger Adeliger aus dem Languedoc, der seine Mutter und Schwester auf der Wallfahrt begleitete.
«Habt Ihr schon gehört?», sagte er quer über den Tisch zu der Matrone, «nicht weit von hier haben sie gestern ein paar von
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