Die Ketzerbibel
Wein mit Essig versetzt oder Daumen heimlich auf die Waagschale gedrückt.
Danielle runzelte die Stirn. Ihre Narben waren allmählich verheilt, wenn auch die Haut dort noch etwas verzogen und blass war, wo der heiße Teer sie verbrannt hatte. Sie hätte es lieber gehabt, wenn man nicht mehr davon gesprochen hätte.
«Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken», sagte Anne und wechselte das Thema. «Dieses Buch, das du gerade abschreibst, wollen wir an andere Beginenhäuser weiterschicken. Aber vergiss nicht: Kein Wort darüber zu irgendjemandem! Auch nicht zu Magdalène. Die ist so vertrauensselig wie ein Kind, offen zu jedem und kann einfach kein Geheimnis bewahren!»
«Was ist das denn für ein Buch? Ich kann erkennen, dass es sich um einen religiösen Text handelt … Und auf Französisch geschrieben, also wahrscheinlich von einem Laien», sagte Danielle.
Anne lächelte ein wenig traurig. «Ja, und es ist eine Schande, dass wir es verbergen und unter der Hand weiterreichen müssen. Dabei ist es ein so wundervolles Buch, dass man es in die Welt hinausrufen sollte, von Herolden und Marktschreiern verbreiten lassen – stattdessen können wir froh sein, wenn es die Zeiten überdauert, und sei es auch nur in einem einzigen Exemplar.»
«… dass die zu nichts gewordene Seele von den Tugenden Abschied nimmt und nicht weiter in ihrer Knechtschaft steht», las Danielle halblaut. «Die Seelen, über welche die Tugenden Gewalt ausüben, leben im Zwang. – Das klingt aber merkwürdig! Was hat der Schreiber denn gegen Tugend einzuwenden?»
«Dass die sogenannten Tugenden Menschenwerk und aufgesetzt sind», erklärte Anne. «Dass sie ein zwanghaftes Regelwerk sind, nur dazu bestimmt, diejenigen Seelen zu zwingen und zu züchtigen, die den Zustand der vollkommenen Gottesliebe noch nicht erreicht haben. Dass die Tugenden nur derjenige benötigt, der sich mit Gott noch nicht vereinigt hat – als Richtlinie. Übrigens ist es eine Schreiberin: Marguerite Porete – du erinnerst dich?»
Erschrocken setzte Danielle die Feder ab und sah Annean: «Doch nicht die Ketzerin, die vor kurzem in Paris verbrannt worden ist?»
«O ja, ebenjene. Du siehst also, welch großes Vertrauen ich dir entgegenbringe, indem ich es dich abschreiben lasse.»
Abbé Grégoire hatte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, im Gottesdienst davon zu berichten, wie die Begine Marguerite Porete nach jahrelangem Prozess am 1. Juni 1310 in Paris lebendig verbrannt worden war:
«Höret, ihr guten Bürger von Pertuis», er hatte dabei aber unverwandt zur Bank geschaut, auf der die Beginen saßen, «höret gut zu, was sich in Paris zugetragen hat: Die Irrlehren der Begine Marguerite Porete sind vom Generalinquisitor Guilhelm Humbert verworfen worden. Dieses Weib hat sich erdreistet, ohne kirchliche Weihe oder Erlaubnis oder gar irgendeine theologische Ausbildung zu predigen, und sie hat abscheuliche Lügen verbreitet! Sie hat behauptet, der Mensch bedürfe weder der Kirche, noch müsse er nach Gottes Vergebung streben, sondern er könne aus sich selbst heraus vollkommen werden – vollkommen! Kann man sich so etwas vorstellen?!»
Die Stimme des Abbé hatte sich in immer schrillere Höhen geschraubt. Danielle aber hatte ihn kaum mehr gehört. Sie befand sich an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, vor Pertuis, bevor sie Begine geworden war:
Brennender Durst. Da war ein Wasserkrug. Er stand auf dem Boden nahe dem Gitter. Der Steinboden glänzte feucht im Licht eines blakenden Talglichts draußen auf dem Gang. Das Stroh auf dem Boden war ebenfalls feucht und stank bestialisch nach Kot und Urin, nach Fäule und Angst. Sie versuchte den Krug zu erreichen, doch die Kette an ihrem Fuß war zu kurz. Sie kroch auf den Krug zu, machte sich lang, streckte die Hand aus und versuchte den Henkel zu erwischen. Plötzlich Schritte auf dem Gang, laute Stimmen. Sie
hob den Blick. Ein massiger Mann in langer roter Robe stürmte an ihr vorbei, gefolgt von Soldaten. Er hielt an, blickte auf sie herab. Sein ihr zugewandtes Gesicht war verschattet. Sie ahnte fleischige Züge, den harten, verächtlichen Blick und kroch in ihre Ecke zurück. ‹Nicht diese da – die andere dort!› Und sie fühlte Erleichterung, als sie weitergingen, und Scham, als sie zurückkamen, ein geschundenes, stöhnendes Bündel mit sich schleppten, Scham, weil sie Erleichterung verspürt hatte.
Der Abbé hatte Geifer vor dem Mund, so sehr erregte er sich: «Da stellt sich ein Weib
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