Die Ketzerbibel
zu vervielfältigen, und ich habe dir erlaubt, Danielle ins Vertrauen zu ziehen, weil ich sie für klug genug halte, um zu begreifen, wie wichtig in diesem Fall Diskretion ist. Also halte deine Zunge im Zaum, Schwester!»
«Ja, Meisterin.» Anne senkte den Kopf und ging wieder an ihre eigene Arbeit, doch ihre Miene war hart geworden.
«Anne», fügte Juliana beruhigend hinzu, «ich verstehe dich ja, und auch ich halte den ‹Spiegel› für ein gutes undwahrhaftiges Werk. Doch wir müssen uns in der Welt einrichten, und dazu gehört, unseren Feinden möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.»
«Ja, Meisterin.»
«Wir überzeugen sie durch ein gutes Beispiel, nicht durch aufrührerische Reden.»
«Ja, Meisterin.»
Danielle musste daran denken, wie oft ein gutes Beispiel mit Einfältigkeit verwechselt wurde.
Und sie betrachtete Anne mit neuer Hochachtung. Bislang hatte sie Beginen, wo sie ihr begegnet waren, für arme Schwärmerinnen gehalten oder sie wegen ihrer Unauffälligkeit nicht weiter beachtet. Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine ganz eigene Philosophie und theologische Ausprägung besaßen, jedenfalls die Gebildeten unter ihnen, so wie Juliana und Anne. Und sie hatten einen eigenen Weg zur Seligkeit gefunden, «die sieben Stufen, auf welchen man aus dem Tal auf den Gipfel des Berges steigt, der so vereinzelt dasteht, dass man da außer Gott nichts sieht».
Sie schrieb weiter aus dem Buch ab, diesmal viel aufmerksamer als vorher. Eine Zeile prägte sich ihr besonders ein: «An die Demut müsst ihr euch halten, sie ist die Schatzmeisterin der Wissenschaft.» Es war ihr, als ob dieser Satz eine besondere Bedeutung für sie habe.
Am späten Nachmittag, als die Hitze sich einigermaßen gelegt hatte und die violetten Schatten sich unter den Bäumen hervorwagten, um lange Finger in den Hof und in die Beete zu schicken, kam die alte Begine Alix ins Scriptorium. «Guten Abend, Juliana. Seid Ihr mit der Italienerin fertig? Ich würde sie mir gern wieder holen. Die Pflanzen haben Durst.»
«Ja, nimm sie nur mit. Sie kann ein anderes Mal weiterkopieren. Das heißt – wenn du einverstanden bist, Danielle.»
«Ja, sicher.» Sie hatte an dem, was sie gelesen und abgeschrieben hatte, reichlich genug zu denken. Danielle reckte sich und ließ die Finger knacken. Sie winkte Anne zu und folgte Alix. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, rief Juliana noch einmal ihren Namen. Sie drehte sich um, und Juliana legte einen Finger an die Lippen.
Da sie etwas von Heilpflanzen zu verstehen schien, hatte man beschlossen, sie für die Sommermonate der Gärtnerin zuzuteilen. Alix war alt und korpulent. Ihre Oberarme hatten die Ausmaße und das Aussehen von geräucherten Schweineschinken. Ihre Gelenke waren ständig geschwollen, und das Bücken und Knien auf dem harten Boden fiel ihr schwer. Aber sie liebte das Essen und den Wein. Sie war meist fröhlich, wenn auch mitunter etwas grob, und für die jüngeren Beginen war sie eine Vertraute und Kumpanin bei allem Schabernack.
«Was ist das?», hatte Alix gefragt und mit ihrem Stock auf eine kniehohe Staude mit unpaarig gefiederten Blättern und weißen Blütendolden gezeigt.
«Das ist Katzenkraut – echter Baldrian. Der ist warm und trocken, soll bei Seitenstechen und Kopfschmerzen und gegen Husten helfen. Ich habe aber auch festgestellt, dass seine getrocknete Wurzel in Teemischungen beruhigend wirkt – und nicht die schädlichen Wirkungen von Mohnsaft hat», hatte Danielle heruntergerasselt.
«Hast du festgestellt? So. Und das dort?» Sie stieß mit dem Stock gegen ein buschiges, silberblättriges Gewächs mit blauvioletten Blütenkerzen.
«Salbei. Man setzt die Blätter frisch oder getrocknet bei Diätfehlern, bei Rheuma, schlechtem Atem und gegen die Verschleimung der Säfte ein.»
«Schau an. Das mit den Diätfehlern wusste ich nicht. Ich nehm’s gegen meine Gicht, die – wie ich sehr wohl weiß –meinem Appetit geschuldet ist. Aber kochen oder zerstoßen kann es schließlich jeder. Weißt du auch, wie man das Kraut zum Wachsen bringt, Italienerin?»
«Vom Salbei nimmt man Kopfstecklinge jetzt im frühen Sommer. Er wächst und blüht aber viele Jahre. Baldrian ist auch mehrjährig, da weiß ich aber nicht, ob er aus Samen kommt oder aus Stecklingen.»
«Hmm, hmm! Dann wollen wir mal sehen, ob du auch ein Händchen für meine Pflanzenkinder hast. Da in dem Korb hab ich ein paar junge Setzlinge von Fenchel und Sellerie. Die pflanz mir ein, den Sellerie dahin
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