Die Ketzerbibel
violett und schwer. Die Hitze drückte Mensch und Tier nieder wie eine körperliche Last. Wer Feldarbeit zu verrichten hatte, stand im Morgengrauen auf, um wenigstens ein paar Stunden Tagewerk zu vollbringen. Doch bereits am späten Vormittag brannte die Sonne so unerträglich auf die Erde herab, dass die Olivenhaine flimmerten und, wer immer konnte, sich in den Schatten verkroch und die Augen abwandte vor ihrem Gleißen.
Es war kühl und still im Scriptorium. Juliana, die anfangs noch den Versuch unternommen hatte, geschäftig zu erscheinen, war längst in ihrem Sessel eingeschlafen. Anne saß über den Hauptbüchern des Konvents und übertrug Zahlen von einer Wachstafel: soundso viele Vliese gewaschener Wolle vom Schäfer Bertrand für soundso viele Kupferstücke, drei Brote und eine Kanne Bier.
Soundso viele Stränge gelber Wolle, soundso viele Stränge blauer Wolle, soundso viele Stränge grüner Wolle von den Wollfärbern aus Avignon für soundso viele Kupferstücke, acht Tiegel Beinwellsalbe und einen Krug Met. 10 Ballen ungefärbte Leinwand, drei Ballen gestreiften und vier Ballen karierten Damast an den Tuchhändler Bodin aus Pertuis für 25 Silberstücke. Drei Ballen krappfarbenen Seidendamast an den Tuchhändler Panpan aus Lyon für soundso viel.
Danielle stand am Pult und kopierte flink ein Buch, das Anne ihr gegeben hatte.
Sie hatte den ganzen Morgen im Kräutergarten gearbeitetund war nun zufrieden, sich in der Kühle zwischen den dicken Steinmauern aufhalten zu dürfen.
Drinnen kratzten die Federn über Pergament. Draußen schrillten die Zikaden. Juliana schnarchte leise und schreckte dann hoch. «Ihr müsst entschuldigen, ihr Lieben, ich bin alt und müde. Am besten höre ich jetzt auf so zu tun, als sei ich zu irgendetwas nutze und gehe einfach ein wenig schlafen.»
Juliana stand auf. Sie stützte sich mit beiden mageren, altersfleckigen Händen auf den Lehnen ab und stand einen Augenblick ein wenig unsicher auf ihren Beinen, während sie sich langsam aus der gekrümmten Haltung aufrichtete. Sie nickte den jüngeren Schwestern zu und schlurfte hinaus. Sie hörten sie in ihrem Schlafzimmer rumoren. Die Bettstatt knarrte. Dann war Ruhe.
«Es ist wirklich zu schade, dass du nicht schön genug schreibst, um verkäufliche Kopien zu fertigen», sagte Anne. «Bei diesen hier kommt es nicht darauf an. Es ist wichtiger, den Inhalt zu vervielfältigen und zu verbreiten. Aber du schreibst flink. Wahrscheinlich zu flink – ich frage mich … ob du vielleicht irgendwo als Buchhalterin …? Erinnerst du dich, viel geschrieben zu haben? Das Tintenreiben und das Anspitzen der Feder, das Beschweren der Pergamentblätter mit der Bleischnur, das alles ging dir von der Hand wie eine alte Gewohnheit.»
Danielle zuckte die Achseln.
«Betrachte doch einmal genau die Federn, rieche an der Tinte, streiche mit den Händen über die Schreibhaut. Manchmal rufen Gerüche und Texturen die Erinnerung wach», setzte Anne nach.
Danielle tat, wie ihr geheißen, doch es bewirkte nichts Besonderes in ihr.
Die Tinte roch schwach nach der Gerbsäure der Dornenrinde und dem Rotwein, aus denen sie gemacht war. DasPergament war fein geädert und dort, wo es schon einmal abgeschabt worden war, etwas rau. Einige schlechtgebeizte Stellen trugen auf der Haarseite des Pergaments noch Reste von Stoppeln, wo die Tinte zu verlaufen drohte. Aber auf solche Dinge hatte sie nie geachtet. Was immer sie geschrieben hatte, das hatte der Schönschrift nicht bedurft.
«Nichts? Also eine einfache Hausfrau warst du nicht, so viel ist sicher. Hast du vielleicht Handel getrieben? Hm! Kennst du die gebräuchlichen Mengenmaße? Wie viel Getreide passt in ein
setier de Paris
?»
«Etwa dreißig mittlere Scheffel», antwortete Danielle, ohne zu zögern.
«So! Das weißt du also. Und ein
livre poid de Lyon
?»
«Etwas weniger als ein Scheffel.»
«Und wie viel kann ein Maultier tragen? Welche Strecke legt es an einem Tag zurück?»
«Das weiß ich nicht.»
«Schade. Dann warst du keine Händlerin. So etwas wissen die genau. Und das hätte auch erklärt, was man mit dir gemacht hat.»
Händler, die man mit falschen Gewichten erwischt hatte oder verdorbenen Waren wurden gelegentlich geteert und gefedert, um durch ihr Beispiel die anderen für eine Weile zur Besserung zu bringen. Das hielt tatsächlich immer ein paar Wochen vor. Danach ging alles weiter wie gewohnt: Nüsse wurden in Wasser gelegt, um mehr Gewicht zu erzielen, schlechter
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