Die Ketzerbibel
schicken, wenn die Pfarrer auf etwas stoßen. Ich bin fest entschlossen, und mit diesem Abbé Grégoire machen wir den Anfang. Wir werden ja sehen, ob er etwas herausbringt. Erteilt ihm die entsprechenden Vollmachten! Ich will es so!»
Die Beginen aus Toulouse blieben einige Tage vor der Stadt, um sich ganz zu erholen und abzuwarten, ob Auda sich in Pertuis einleben würde. Anne setzte sich bei Juliana durch und erhielt von ihr die Erlaubnis, die Toulouser Seelschwestern zusammen mit Danielle noch einmal zu besuchen, kurz bevor sie weiterziehen wollten.
«Warum seid ihr wirklich verfolgt worden in Toulouse?», wollte Anne wissen. «Bitte, sagt es mir. Man hat euch doch nicht so hart bestraft, nur weil ihr Waldenser Bibeln besessen habt. Ich muss wissen, welche Ideen, welche Vorstellungen andere Beginen haben. Sind wir denn nichts als nachgemachte Klosterschwestern, folgen wir ausgetretenen Pfaden, auf denen wir Frauen ohnehin nur Packesel sind? Oder können wir eine eigene, bessere Lehre entwickeln?»
«Und ob wir das können! Folgen wir nicht dem Herrn Jesus wahrhaftiger nach als alle diese Prälaten, die in einem unerhörten Luxus leben?», rief Marie leidenschaftlich. «Wir haben in der Tat eine Botschaft: Der Glaube allein macht selig, nicht die Sakramente. Nur die Zehn Gebote müssen beachtet werden, die von Gott kommen, und das, was Jesus selbst gesagt hat, so wie es in der Bibel steht. Es ist alles da, man muss sich nur daran halten, nicht aber an all dieses kleinliche Regelwerk, das Menschen geschaffen haben. Wenn wir uns daran halten, dann wird eines Tages die
intelligenzia spiritualis
herrschen, von der Joachim von Fiore gesprochen hat.»
«Wir versuchen, die Menschen zu Liebe und Herzensreue zu bekehren», sagte ganz einfach Barbara. «Wenn sie die haben, dann haben sie Gott.»
Annes Gesicht hatte sich gerötet von der Hitze in dem Holzverschlag und auch vor Begeisterung. «Wenn ihr so denkt, liebe Schwestern, dann werdet ihr auch sicher gern dieses Buch hier lesen und verbreiten.» Sie griff in den mitgeführten Korb, wo sie unter den Broten für die Armen drei kleine Bücher hervorzog, in schmuckloses Leder gebunden. Danielle erkannte sie. Eines davon hatte sie selbst kopiert. Es war der «Spiegel der einfachen Seelen».
Babara hatte von dem Buch und dem Prozess gegen die Autorin gehört. Die drei Frauen aus Toulouse erklärten sichgern bereit, die Bücher auf ihre Reise mitzunehmen und dorthin zu geben, wo man sie schätzen würde.
«Wohin werdet ihr euch wenden?», fragte Danielle.
«Wir haben uns entschieden, über Savoyen ins Piemont zu gehen. In den Bergen ist das Leben und Denken freier», sagten Barbara und Maria. Doch die dritte und jüngste Frau, die sich Anne als Prous Boneta vorgestellt hatte, sagte leise: «Ich werde nach Carcassonne gehen. Denn mir ist es bestimmt, das Dritte Zeitalter einzuläuten.»
Die anderen sahen sie überrascht und entsetzt an. Hatte sie vor Kummer den Verstand verloren? Doch sie schien ganz klar und nüchtern, nicht einmal besonders froh oder stolz darauf, dass ihr eine solche Ehre zuteilgeworden war.
«Mir ist im Traum ein Engel erschienen», sagte sie. «Er hat mir verkündet, dass Eva für das Zeitalter des Vaters stand, Maria für das Zeitalter des Sohnes, und dass ich den Heiligen Geist gebären werde.»
«Aber wie? Wann ist er dir erschienen? Warum hast du uns gar nichts davon gesagt?», wollten Maria und Barbara wissen.
«Ich weiß ja selbst noch nicht genau, was mit mir geschieht. Aber ich weiß, dass es mir bestimmt ist, nach Carcassonne zu gehen.» Prous Boneta wirkte sehr jung und verwirrt.
Barbara bekreuzigte sich, und Maria umarmte Prous. «Dann gehen wir natürlich mit dir», sagten sie.
«Kann es wahr sein, was sie sagt?», fragte Danielle, als sie mit Anne durch die engen Gassen von Pertuis zurück zum Konvent ging.
«Warum nicht? Alle diese gelehrten und großen Männer haben uns doch bisher keinen Frieden gebracht. Warum sollte die Hoffnung der Welt denn nicht in einer Frau liegen?»
«Aber in dieser? Sie sah so – alltäglich aus, so ängstlich. Sie war so still.»
«Wenn dir so eine Weissagung begegnen würde, wärst du dann nicht ängstlich und still?», entgegnete Anne.
«Hätten wir sie dann nicht überreden müssen, zu uns zu kommen? Sie beschützen?», fragte Danielle.
«Wenn Gott ihr eine solche Rolle bestimmt hat, glaubst du, sie hätte dann wohl unseren Schutz nötig?», fragte Anne zurück.
«Ich hoffe, dass es so
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