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Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)

Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tereza Vanek
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Die Äbtissin stand auf, um das Ende des abendlichen Mahls zu verkünden.
    » Geht jetzt in euren Schlafsaal. Nach dem Komplet könnt ihr euch niederlegen. «
    Die kurze Unterbrechung der Schweigepflicht mündete in munterem Geschnatter. Füße huschten über die hölzernen Bohlen des Bodens. Nur Adelind saß immer noch da und starrte unruhig zu der Tür, durch die Hildegard vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war. Wartete ihre Schwester schon im Schlafsaal? So dumm konnte sie nicht sein, denn sie musste doch wissen, dass die Äbtissin derart eigenwillige Verstöße gegen die Ordnung in ihrer Gemeinschaft nicht mochte. Adelind bemühte sich, aus allen Fasern ihres Körpers ein wenig Mut zu ziehen, als sie sich an Mutter Mechtildis wandte.
    » Ehrwürdige Mutter, ich werde nach Hildegard sehen. Sie ist schon sehr lange fort, und in den letzten Wochen schien sie mir sehr schwächlich « , sagte sie so beiläufig wie möglich.
    Erwartungsgemäß verzog die Äbtissin das Gesicht.
    » Gut, dann geh. Aber Hildegard schwelgt zu sehr in ihrem Leid, will sich ständig mit irgendwelchen Wehwehchen entschuldigen. Mach ihr klar, dass ich nicht bereit bin, es zu dulden. «
    Adelind biss sich auf die Lippen, um eine zornige Antwort zu unterdrücken. Wäre es Schwester Juliana, die auf den Latrinen verschollen war, hätte Mutter Mechtildis schon längst selbst jemanden losgeschickt. Allerdings beschränkten die Krankheiten der Favoritin sich auf ein oder zwei böse Erkältungen im Jahr. Hildegard hatte schon als Kleinkind häufig gehustet und viel zu wenig gegessen. Während sie den kräftigen, mit einer schützenden Fettschicht ausgestatteten Leib der Äbtissin musterte, wurde ihr klar, dass ein mit derart robustem Naturell gesegneter Mensch wohl kein Verständnis für zartfühlende Wesen aufbringen konnte.
    Im Eilschritt lief sie die Stufen hinab. Es war kalt im Treppenflur, und sie bereute es, die Handschuhe auf dem Tisch des Speisesaals liegen gelassen zu haben. Auch die Latrinen waren nicht beheizt. Was machte Hildegard dort nur so lange? Sie konnte sich den Tod holen.
    Adelind atmete fast erleichtert auf, als ihr der gewohnte Gestank in die Nase stieg, denn nun war sie am Ziel. Da sie vergessen hatte, eine Kerze mitzunehmen, musste sie sich am kalten Gemäuer entlangtasten.
    » Hildegard! Bist du hier? «
    Sie vernahm, wie die leise Stimme ihrer Schwester das Paternoster murmelte, und lief zu ihr hin. Hildegard betete an den merkwürdigsten Orten. Durch kleine Öffnungen in der Mauer drang ein wenig Licht an diesen Ort, den man gewöhnlich nicht genauer sehen wollte. Hildegard kauerte ein Stück neben einem der Löcher, über denen die Notdurft verrichtet wurde. Ihr Gewand war bis zu den Knien hochgezogen, die Wollstrümpfe hatte sie an die Knöchel heruntergerollt. Adelind spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, denn etwas stimmte nicht. War Hildegard nicht in der Lage gewesen, sich wieder aufzurichten? Sie saß völlig starr, ganz in ihr Gebet vertieft, und wandte nicht einmal den Kopf, als ihre Schwester sich näherte. Da Adelinds Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie dunkle Schmutzstreifen auf Hildegards Beinen und auch auf ihrem Gesicht.
    » Was hast du getan? Bist du völlig von Sinnen? Wenn Mutter Mechtildis dich so sieht! « , rief sie. Hildegards Kopf drehte sich endlich in ihre Richtung. Die Augen wirkten milchig wie Glas, und Speichel tropfte von ihrem rechten Mundwinkel. Adelind erschauerte, denn für einen Moment meinte sie, einen bleichen Geist vor sich zu sehen.
    » Ich bin eine Sünderin, ich bin schmutzig… « , murmelte Hildegard. Die vertraute Stimme holte Adelind in die Wirklichkeit zurück. Ihre Schwester war wie ein scheues, nervöses Reh und neigte zu übertriebenen Gemütszuständen.
    » Ja, schmutzig bist du allerdings, aber nicht von der Sünde, sondern von… hast du in die Latrine gefasst? Was ist nur in dich gefahren? « , begann sie und fragte sich, wie sie Hildegard möglichst schnell in einen präsentablen Zustand bringen konnte. Erleichtert entdeckte sie einen Eimer mit Wasser, den die Konversschwestern für die nächste Reinigung der Latrinen bereitgestellt haben mussten. Trotz der eisigen Kälte griff sie mit bloßen Händen hinein und durchstieß die dünne Eisschicht, zu der die Oberfläche bereits erstarrt war. Rasch wischte sie über Hildegards schmales Gesicht. Die Beine konnten erst einmal unter der Kukulle verborgen werden. Zwar glänzten

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