Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
die Augen ihrer Schwester fiebrig, aber ihre Stirn fühlte sich kühl an. Eine Krankheit konnte es also nicht sein.
» Ich bin so schlecht, so voller Sünde « , murmelte Hildegard weiter, als nehme sie die Berührung nicht einmal wahr. » Du weißt nicht, was ich getan habe. «
» Was sollst du schon getan haben? Du bist doch viel frommer als ich « , scherzte Adelind krampfhaft und versuchte dann, rasch noch den gröbsten Schmutz von Hildegards Beinen zu entfernen. Während sie in das vor Entsetzen verzerrte Gesicht ihrer Schwester blickte, überkam sie plötzlich eine Ahnung. Sie setzte sich an Hildegards Seite, obwohl sie dadurch vermutlich auch ihre eigene Kukulle verschmutzte. An dem dunklen Wollstoff sah man es kaum. Dann legte sie ihren Arm um die nervös zuckenden Schultern der Schwester. Selbst wenn sie nun zu spät zum Komplet kämen, musste sie die seltene Gelegenheit nutzen, unbeobachtet mit Hildegard zu reden.
» Ich glaube, ich weiß, was du meinst « , begann sie leise. » Aber glaube mir, mir geht es ebenso. Es begann ungefähr zwei Jahre nach der Weihe. Wir wurden nach dem Tod unserer Mutter als kleine Kinder in dieses Kloster gegeben. Unser Vater hat niemals auch nur nach uns gefragt. Wir legten das Gelübde ab, weil uns nichts anderes übrig blieb. Wie sollten wir denn einen Ehemann finden? «
Hildegard starrte sie mit großen, verwirrten Augen an. Wenigstens hörte sie zu, schien empfänglich für diese Worte. Entschlossen redete Adelind weiter.
» In den letzten Jahren, da… da hatte ich manchmal seltsame Sehnsüchte. Ich wusste, sie waren schlecht, aber ich kam nicht gegen sie an. Da ist ein junger Kanoniker mit strahlend blauen Augen aus dem Sankt-Kunibert-Stift, der gern unauffällig in meine Richtung blickt, wenn an den hohen Feiertagen die Messe gemeinsam zelebriert wird. Nachts musste ich oft an ihn denken. Ich stellte mir vor, dass ich ihm ein Zeichen geben könnte, damit wir uns irgendwo heimlich treffen, und dann… dann wüsste ich, wie es ist. Wenigstens ein einziges Mal. «
» Tu es nicht! «
Hildegards Schrei hallte durch den dunklen Raum. Sie packte Adelinds Handgelenke und drückte sie mit erstaunlicher Kraft zusammen.
» Aber natürlich tue ich es nicht « , wehrte Adelind den Angriff ab. » Ich bin nicht verrückt. Es wäre viel zu gefährlich. Aber manchmal, da tut man Dinge in Gedanken, und das allein mag eine Art Sünde sein. «
Tief in ihrem Inneren glaubte sie nicht daran, dass Gott sie für Gedanken allein würde strafen wollen, aber sie wusste, dass Hildegard wohl so dachte, und wollte sie daher durch dieses Geständnis trösten. Doch das Gesicht der Schwester zeigte keine Erleichterung. Die großen graublauen Augen drückten nur stummes Entsetzen aus, der eiserne Griff marterte Adelinds Handgelenke weiter.
» Du weißt nicht, wie es ist « , flüsterte Hildegard. » Widerwärtig, abscheulich. Du kannst den Schmutz nicht von deinem Körper waschen, ganz gleich, wie du dich bemühst. «
» Na, na. « Adelind schaffte es endlich, ihre Hände frei zu bekommen. » Nicht alle Frauen, die es erfahren haben, machen einen derart gepeinigten Eindruck auf mich. Aber wir sind eben Nonnen. Und jetzt lass uns ins Dormitorium gehen, wo wir hingehören. «
Sie packte Hildegard an den Schultern und versuchte, gemeinsam mit ihr aufzustehen. Die Schwester hing wie ein lebloser Sack in ihrem Griff, was sie trotz ihres mageren Körpers erstaunlich schwer machte. Kurz schlug sie mit dem Hinterkopf gegen das Gemäuer.
» Jetzt lass den Unsinn! Du verletzt dich noch. Wir müssen zurück, verstehst du nicht? «
Adelinds Sorge begann sich allmählich in Zorn zu verwandeln. Es konnte so anstrengend sein, ständig auf Hildegard aufzupassen.
» Du weißt nicht, was ich getan habe « , flüsterte die Schwester. » Ich bin so abgrundtief schlecht. «
Adelind schüttelte sie kurz.
» Wenn wir deinetwegen Ärger mit Mutter Mechtildis bekommen, dann bist du wirklich abgrundtief schlecht « , meinte sie mit einer Mischung aus Spott und Unmut. Dann lief sie los. Zu ihrer Erleichterung leistete Hildegard keinerlei Widerstand, als sie hinterhergezerrt wurde.
2. Kapitel
N achdem der Abend ohne weitere beunruhigende Vorfälle verlaufen war, begann Adelind den nächsten Tag in der Hoffnung, dass Hildegards seltsames Benehmen nur eine einmalige Gemütsverirrung gewesen war. Sie überstanden schlaftrunken und vor Kälte schlotternd die Nokturn, schlüpften dann rasch zurück in ihre Betten, um
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