Die Ketzerin von Carcassonne: Historischer Roman (German Edition)
in der Zeit bis zur Laudes noch ein wenig zu schlafen. Danach begann die übliche Abfolge von Gebeten, gemeinsamen Arbeiten und Mahlzeiten, die seit zwölf Jahren das Leben von Adelind und Hildegard bestimmte. Adelind fiel vor der Prim meist die Aufgabe zu, mit den übrigen Schwestern das Singen von Hymnen zu üben, da Mutter Mechtildis ihre Stimme schätzte. Diese Momente brachten etwas Licht und Reiz in die ansonsten träge dahinplätschernden, unabänderlich gleichen Tage, denn Adelind fühlte sich erstaunlich lebendig, wenn sie sang. Nun hatte die Äbtissin sie aufgefordert, einige lateinische Marienlieder vorzutragen, wobei sie von einer anderen Schwester auf der Harfe begleitet wurde. Adelind genoss es, im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, und wusste, dass die Äbtissin ihr diese Sünde des Hochmuts vergeben würde, denn sie schätzte es, wenn ihre Nonnen besondere Talente aufwiesen.
Auf die Prim folgte wie üblich eine leichte Mahlzeit aus Brot und Bier. Für Hildegard gehörte dies zu den Lichtblicken des Tages, da sie sich in Ruhe satt essen konnte, ohne zum Verzehr von Fleisch gedrängt zu werden. Danach sollte das gemeinsame Lesen von Heiligenlegenden im Kapitelsaal folgen, doch der bisher so angenehme Tag nahm eine unerwartete Wendung, als Mutter Mechtildis verkündete, dass Vater Severinus nun bereit sei, den Nonnen die Beichte abzunehmen. Juliana sprang sogleich auf, um als Erste in den kleinen Nebenraum zu laufen. Die Äbtissin lächelte ihr zufrieden hinterher. Adelind vernahm hauchzartes Geflüster im Hintergrund und stellte erleichtert fest, dass sie mit ihrem Ärger über diese nach dem Lob ihrer Gönnerin heischende Schwester nicht allein war. Dann bemühte sie sich, eine gleichmütige Miene zu wahren. Sie hatte bereits vor Weihnachten ausführlich gebeichtet und sah keinen Grund, Vater Severinus gleich wieder aufzusuchen. Welche Möglichkeit zur Sünde gab es denn in diesem Leben, das nach strengen Regeln ablief und ihr kaum einen Moment gönnte, da sie allein mit ihren Gedanken und Wünschen war?
Juliana kam mit vor Frömmigkeit strahlender Miene zurück. Eine weitere Schwester folgte bereitwillig, die anderen hatten inzwischen die bereitliegenden Bücher ergriffen, um sich mit erbaulicher Lektüre zu beschäftigen. Adelind beschloss, gemeinsam mit Hildegard eine Heiligenlegende zu studieren, damit sie der Äbtissin nicht als Müßiggängerinnen ins Auge stachen. Sie mochte Vater Severinus nicht. Kaum hatte sie das Buch aufgeschlagen und einen ersten Blick auf die Farbenpracht der Bilder geworfen, da ertönte Mutter Mechtildis’ Stimme: » Hildegard, du hast gestern die Gaben des Herrn verschmäht, indem du dich vorzeitig vom abendlichen Mahl entfernt hast. Adelind unterstützte dich dabei, wie es leider ihre Art ist. Danach seid ihr beide zu spät zum Komplet erschienen. Wollt ihr euch nicht von der Last dieser Sünden befreien? «
» Den Teufel will ich«, schoss es Adelind durch den Kopf, doch dann erschrak sie. Nun hatte sie in der Tat etwas zu beichten, aber ein Teil ihrer selbst vermochte sich dieses Gedankens nicht zu schämen. An ihrer Seite hörte sie Hildegard leise wimmern. Adelind hob kurz die Handfläche, um sie zu beruhigen. In den Jahren im Kloster hatten sie zahlreiche Gesten erfunden, die eine Art geheimer Sprache darstellten.
» Nun gut, ich gehe zuerst « , meinte sie zu der Äbtissin und stand auf. Im Hinausgehen gelang es ihr, Hildegard einen aufmunternden Blick zuzuwerfen. Es wäre alles nicht so schlimm, würde nicht zu lange dauern. Zwar reichte es für gewöhnlich, einmal im Jahr zu beichten, und zudem sollte es auf eigenen Wunsch hin geschehen, aber Mutter Mechtildis mochte Vater Severinus, und der hörte offenbar gern die Beichten von Nonnen.
Sie betrat einen kleinen, mit zwei Kerzen erleuchteten Raum, wo der Priester auf sie wartete. An seinem Gesicht fielen zunächst die sehr breiten Kieferknochen auf, die seinem Kopf die Form von einem ungleichmäßigen Trapez verliehen, denn die Schläfen lagen nahe beieinander. Das Fleisch an seinen Wangen war schwammig. Er hatte sehr kleine, häufig gerötete Augen.
Adelind ermahnte sich, dass es nicht recht war, einen Menschen nach seinem Äußeren zu beurteilen. Sie kniete vor seinem Stuhl nieder, wie es die Regeln der Beichte erforderten.
» Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt « , begann sie mechanisch. Dann wollte ihr zunächst nichts einfallen, und sie griff daher auf die Sünden der
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