Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Stimmung im Nu verflog. »Zumal – vorausgesetzt, ich habe
Euch nicht missverstanden – Ihr eigens vom Bischof mit seiner Aufklärung
betraut worden seid!«
»Das bin ich auch!«, warf Berengar mit an Dreistigkeit
grenzender Gelassenheit ein und passte seinen Blick demjenigen der Priorin an.
»Oder besteht Ihr darauf, dass ich mir eine schriftliche Legitimation
besorge?!«
So einfach, wie sich Berengar die Sache vorgestellt
hatte, war sie anscheinend nicht, und es bedurfte großer schauspielerischer
Fähigkeiten, um den Argwohn der Priorin zu zerstreuen. Noch einen Moment
länger, und er hätte dem Blick der gräulich schimmernden, ihn wie ein lästiges
Insekt taxierenden Augen nicht mehr standhalten können.
Doch dann war es endlich geschafft. Schwester Irene
senkte den Blick und gab klein bei. »In Christi und der Heiligen Namen!«,
schwang trotz allem reichlich Argwohn in ihrer Stimme mit. »Wenn dies Euer und
der Wille seiner Fürstbischöflichen Gnaden ist, dann …«
Fast gleichzeitig, als er bemerkte, dass sich die
Priorin von der Tür des Skriptoriums abwandte und ihr Blick auf einen ganz
bestimmten Punkt irgendwo hinter seiner rechten Schulter zielte, wurde auch
Berengar von Unruhe erfasst, und so drehte er sich um und – erstarrte.
Das heißt, er erstarrte nicht nur, sondern eine
Taubheit ergriff seine Gliedmaßen, die sämtliche Gefühle, ja sogar seinen
Verstand, auf einen Schlag lähmte. Was er sah, schien nicht Teil der
Wirklichkeit zu sein, was er fühlte, so unbeschreiblich, dass es mit Worten
nicht auszudrücken war.
Just in dem Moment, als er sich umdrehte, kam ihm aus
dem östlichen Teil des Kreuzganges eine Frauengestalt entgegen. Ein Geschöpf,
bei dessen Anblick er vor Schreck zusammenfuhr. Er kannte diese Frau, wenn sie
auch gegenüber der Schwester Irmingardis, die Berengar von Gamburg
kennengelernt hatte, kaum wiederzuerkennen war.
Doch zu seiner Bestürzung war dies nicht der einzige
Schreck für ihn. Hätte Berengar an Gespenster geglaubt, so wäre ihm der Anblick
der einst bildhübschen Ordensschwester um einiges leichter gefallen. So aber
empfand er nur eines: nacktes, alle fünf Sinne lahmlegendes Grauen. Und Angst. Eine
Art Angst, wie er sie in Bezug auf sich selbst nicht kannte.
Angst um jemanden, für den er sein Leben aufs Spiel
gesetzt hätte.
Schwester Irmingardis trug Schleier, Gürtel und
Skapulier, das einzig Normale an ihr. Ganz anders jedoch ihr Gang. Die junge
Ordensfrau bewegte sich wie eine Schlafwandlerin, steif, aufrecht und
ruckartig, eine Marionette aus Fleisch und Blut. Und sie war barfuß, wie
Berengar erstaunt registrierte. Für das Brevier in ihrer Hand hatte sie keinen
Blick übrig, sondern blickte stur geradeaus. Weder nach rechts noch nach links,
sondern einfach nur ins Leere, wo sich ihr Blick zwischen den verwitterten
Grabplatten verlor. Als sie sich näherte, spürte Berengar einen heftigen Stich
im Herzen, und obwohl ihm ihr Anblick fast den Verstand raubte, brachte er kein
einziges Wort hervor.
Nur noch ein paar Schritte, dann hatte Schwester
Irmingardis die Tür zum Skriptorium erreicht. Berengar schluckte nervös, und
seine Hand umklammerte die schweißnasse Kehle. Die Sonne stand bereits tief und
übergoss ihr Habit mit glutrotem Glanz. Schwester Irmingardis indessen bemerkte
es nicht. Die einst gesunde Gesichtsfarbe, die den Vogt an die eines reifen
Pfirsichs erinnerte, war gänzlich verschwunden und der Blässe eines Leichnams
gewichen. Und genau so sah Schwester Irmingardis auch aus: wie ein lebender
Leichnam, der ins Diesseits zurückgekehrt war.
Und dann war es vorüber. Indem sie Berengar und die
Priorin völlig ignorierte, war die junge Ordensfrau am Skriptorium
vorbeigegangen, um die Ecke gebogen und zwischen den Schatten, welche den
westlichen Teil des Kreuzganges einhüllten, verschwunden.
Berengar war wie erstarrt, nicht im Entferntesten in
der Lage, klar zu denken. Er stand einfach nur da und starrte Schwester
Irmingardis hinterher, auch dann noch, als sie längst verschwunden war. Er
hörte nichts und sah nichts und fühlte nichts, weder das Gezwitscher der
Buchfinken, die in einem Schlehdornstrauch im Garten des Kreuzganges nisteten,
noch das Abendlob der Benediktinerinnen zu St. Afra, welches durch das
geöffnete Portal der Klosterkirche hinaus ins Freie drang. Berengar von Gamburg
war am Boden zerstört, als sei er soeben aus einem Albtraum erwacht.
Kein Wunder, dass er den Worten der Priorin keinerlei
Beachtung schenkte,
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