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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Hoeg
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Favoriten. Bach und Schubert bringt sie liebende Sympathie entgegen, aber was ihre tiefsten Gefühle berührt, ist »Solitudevej«, das heißt, wir Kinder sind mit diesem unsterblichen Klassiker wie mit etwas Selbstverständlichem aufgewachsen. Die Gefahr dabei ist, dass man so etwas als gegeben hinnimmt.So dass die Familie ein wenig zusammenzuckt, als Tilte plötzlich sagt:
    »Mama, hat das Lied eigentlich eine besondere Bedeutung für dich und Papa?«
    Es wird auf einmal sehr still in der Küche. Mutter räuspert sich.
    »Als ich neunzehn war«, sagt sie, »hat mich meine Freundin Bermuda, die ihr alle kennt, aufgefordert, beim jährlichen großen Talentwettbewerb im Hotel Finø anzutreten. Ich habe mich drei Monate vorbereitet, der große Tag bricht an, Bermuda begleitet mich zum Hotel, ich betrete die Bühne in Regenmantel und einem Hütchen groß wie eine Pillenschachtel und singe also ›Am Montag im Regen am Solitudevej‹. Mit einem kleinen Tanz, den ich selber choreographiert hatte. Das Licht war ziemlich grell. Deshalb hat mich erst in der letzten Strophe so ein Gefühl beschlichen, dass dies hier gar kein Talentwettbewerb war. Aber erst hinterher wurde mir bewusst, dass ich mich auf dem alljährlichen Pfarrkonvent des Amtes Nordjütland befand.«
    Zwei Minuten andächtiges Schweigen. Dann spricht Tilte.
    »Ich hoffe, Bermuda gegenüber hast du die entsprechenden Maßnahmen ergriffen.«
    »Ich wollte es gerade tun«, sagt Mutter, »aber ich wurde abgehalten. Euer Vater kam nämlich zu mir. Damals habe ich ihn das erste Mal gesehen.«
    »Was hat er gesagt?«, fragt Tilte.
    Mutter steckt den Lötkolben in den Halter. Legt den Draht mit dem Lötzinn hin. Nimmt die Lupe aus dem Auge.
    »Er hat mir erzählt«, sagt sie, »wie froh ich werden würde. Wie wundervoll das Leben mit ihm wäre.«
    Wieder ein Augenblick Stille. Wir wissen: das stimmt. Vater ist so. Seiner Meinung nach erweist er den Leuten tiefstes christliches Mitgefühl, indem er ihnen erzählt, es erwarte sie das Erlebnis ihres Lebens, wenn sie ihn etwas besser kennenlernten.
    Jetzt steht Mutter auf. Langsam geht sie auf Vater zu. Es spricht für ihn, dass er rot geworden ist, dass er also gegen allen Anschein und die Überzeugung vieler so etwas wie Scham im Leibe hat. Er sieht Mutter an, die Sülze ist in Vergessenheit geraten.
    »Und weißt du was, Konstantin«, sagt Mutter. »Du hast recht behalten.«
    Dann küsst sie ihn. Dem beizuwohnen ist einerseits ausgesprochen peinlich, andererseits darf man sich damit trösten, dass keine Außenstehenden zugegen sind.
    Bis hierhin ist alles einigermaßen normal und unter Kontrolle und im Rahmen dessen, was man an einem guten Tag in womöglich sogar mehreren Familien auf Finø erleben kann. Aber in dem Moment, in dem Mutter Vater losgelassen hat und die drei Schritte zu ihrem Stuhl zurückgehen will, kommt Tilte ins Bild.
    »Hört mal eben!«
    Was dann geschieht, ist schwer zu erklären. Jedenfalls hat es damit zu tun, dass wir alle sechs auf etwas lauschen. Nicht darauf, was gesagt oder getan wird, sondern darauf, was dieser Situation eigentlich innewohnt. Und als wir das tun, folgen zwei, drei sensationelle Sekunden, in denen alles schwebt, der Pfarrhof, die Störche auf dem Dach, der Vorratskeller, sogar die Schweinssülze wird schwerelos, und inmitten dieser Schwerelosigkeit öffnet sich allmählich die Tür.
    Dann können wir den Zustand nicht länger bewahren,mit der Innerlichkeit ist es ebenso wie mit dem Waldlauf, die Form muss allmählich aufgebaut werden. Mutter setzt sich also wieder hin, Vater steckt den Kopf in den Topf mit Entenrillettes, Hans richtet den Blick in die Sterne, und Basker hat einen neuen Asthmaanfall, der Zauber ist vorbei.
    Aber wenn man erst einmal einen Blick dafür hat, wenn man sich bloß einen Moment lang in die Liebe versenkt, vergisst man es nicht mehr.
    Und jetzt geschieht es wieder, hier im Hof von Hans’ Wohnheim, als ich merke, wie gut es ist, Geschwister zu haben, und Tilte mir in die Augen sieht.
    Dann hören wir einen Motor.
    Es ist ein Minibus mit getönten Scheiben, und schon als er auf den Hof biegt, haben wir uns geduckt.
    Er hält hinter uns.
    »Sie können nicht wissen, dass es sich um eine Kutsche handelt«, flüstert Tilte, »sie denken, sie müssten nach einer Taxe Ausschau halten.«
    Sie hat recht. Die drei Personen, die aus dem Wagen steigen, werfen nur einen hastigen Blick auf den Vierspänner, dann sind sie im Wohnheim verschwunden.
    Die beiden

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