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Die Kinder der Elefantenhüter

Titel: Die Kinder der Elefantenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Hoeg
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die Stimme und wispert den beiden Frauen zu:
    »Ich bin hier, weil ich Peter besuche.«
    »Ist er abhängig?«, wispert die Bischöfin zurück.
    Sie glaubt nur, sie wispere. Ihre Stimme ist offensichtlich an die Feldsteingewölbe großer, ungeheizter Kirchenschiffe gewöhnt, und selbst wenn sie sie senkt, denkt man, diese Technik muss im Neuen Testament angewandt worden sein, um Tote wieder zum Leben zu erwecken.
    Tilte nickt. Tiefer Ernst steht ihr ins Gesicht geschrieben.
    »Es kommt noch eine Menge strafbarer Handlungen hinzu«, sagt sie.
    Die Bischöfin und die Sekretärin sehen nicht erstaunt aus. Die Nachricht ist für sie keine Überraschung. Für mich schon. Ich bin vorübergehend handlungsunfähig.
    »Muss man nicht mindestens sechzehn sein, um hier eingeliefert zu werden?«, fragt die Bischöfin.
    Tiltes Stimme wird fast unhörbar.
    »Außer in besonderen Fällen«, haucht sie. »Wenn es um besonders gravierende Abhängigkeit geht. Und um schwere Kriminalität.«
    Die Bischöfin nickt.
    »Wenn man sich die Entwicklung ansieht«, sagt sie, »darf man sich nicht wundern.«
    Die Sekretärin nickt, als würde es sie auch nicht wundern.
    »Ich dachte«, sagt die Bischöfin, »ich könnte die Gelegenheit nutzen, dem Pfarrhaus einen kurzen Besuch abzustatten, wenn ich nun schon mal hier bin. Aber die Polizei hat das Haus verriegelt. Und die Tür versiegelt.«
    Sie senkt die Stimme noch mehr. Sie könnte immer noch ein Fußballstadion beschallen.
    »Ich wollte sehen, ob eure Eltern irgendetwas hinterlassen haben. Was uns auf ihre Spur bringen könnte. Wodurch man Kontakt mit ihnen aufnehmen könnte. Um den Fall ohne Einmischung der Polizei zu lösen.«
    Menschen, die dem Dasein tiefschürfendes Nachdenken widmen, fällt es auf, dass die großen Überraschungen oft in Trauben daherkommen, wenn eine Traube überhaupt daherkommen kann.
    Noch ehe ich überhaupt angefangen habe, die Lügengeschichte, die Tilte über mich erzählt hat, zu verdauen, wird der Schock darüber von einem Gefühl des Geehrtseins abgelöst. Immerhin sitze ich hier zwei der größten Strateginnen gegenüber. Ganz offensichtlich will die Bischöfin das erreichen, was ihr beim letzten Mal auch gelang: einen Skandal vermeiden. Um sich für dieses Projekt inspirieren zu lassen, will sie das Pfarrhaus durchstöbern.
    Das will Tilte auch. Aber aus anderen Gründen.
    Bischöfin Anaflabia Borderrud wirft einen Blick auf ihre Uhr, was sie gerne zu verbergen sucht. Die Tür zum Salon geht auf, und jemand sagt: »Also wirklich, ich muss schon sagen. Das nenne ich einen interessanten Zufall!«

 
    Ich weiß nicht, ob du den Philosophen Nietzsche kennst. Persönlich muss ich gestehen, dass er in der siebten Klasse der Städtischen Schule Finø noch nicht auf dem Stundenplan steht. Gut möglich, dass man dafür dankbar sein muss – zumindest nach der Fotografie zu urteilen, die auf dem Umschlag des Buches mit seinen Gedanken abgebildet ist; Tilte und ich haben es in der Bücherei entdeckt. Auf dem Foto hat Nietzsche einen Schnurrbart wie ein Staubbesen und einen Ausdruck in den Augen, dass man denkt, der Mann mag ja genial sein, aber er muss schon einen richtig guten Tag erwischen, wenn es ihm gelingen soll, sich seine Hosen zuzuknöpfen.
    Der Mann, der jetzt in der Tür steht, ist Nietzsche wie aus dem Gesicht geschnitten, bis auf die Tatsache, dass sein Schnurrbart weiß und sein Schädel kahl ist wie ein hartgekochtes Ei, so dass man den Eindruck hat, unser Herrgott hatte nicht einmal mehr etwas Flaum übrig, als er mit dem Schnurrbart fertig war.
    »Jawohl«, sagt er, »was sehen wir denn hier? Bekannte Gesichter!«
    Wir erheben uns. Tilte macht einen Knicks, ich verbeuge mich, und Basker fängt zu knurren an, so dass ich ihm einen Tritt mit dem gestreckten Ballettspann geben muss.
    Durch einen märchenhaften Zufall – den wir keine Sekunde lang für einen Zufall halten – stehen wir vor einemweiteren Mitglied dieser seltenen Spezies, die man am besten siezt. Es ist ein weit über Dänemarks Grenzen hinaus bekannter Mann, Professor und leitender Oberarzt, Chef der Abteilung für Gehirnforschung am Neuen Amtskrankenhaus Århus, Dr. med. Thorkild Thorlacius-Drøbert.
    Ebenso wie die Bischöfin des Bistums Grenå ist Thorkild Thorlacius-Drøbert ein Bekannter der Familie. Er leitete nämlich die kleine forensisch-psychiatrische Gruppe, welche die große Mentaluntersuchung von Vater und Mutter durchführte. In der man sie für soweit normal erklärte, was

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