Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
einschlagen mussten. Die Kinder rannten längst nicht mehr, sie konnten den Vögeln im Schritt folgen.
Der Weg dehnte sich, und weder Siggi noch Gunhild und erst recht nicht Hagen hatte eine Ahnung, wo sie eigentlich genau waren. Riesige Farne und Sträucher wuchsen vor ihnen auf. Das Unterholz war dicht, aber ihre fliegenden Führer verloren sie nie aus dem Blick. Der Nebel schien immer da von einer Brise fortgetragen zu werden, wo sich die Raben aufhielten. Manchmal erleuchtete ein Blitz gerade im rechten Moment besonders dunkle Stellen, so dass man erkennen konnte, wohin es ging.
Kein Wort fiel zwischen den Kindern. Sie waren wie verzaubert und folgten, ohne zu zögern, ohne Angst, Hast und Eile ihren Führern.
Siggi fühlte sich seltsam erfrischt, als hätte er gegessen, getrunken und geschlafen. Ihm war, als wäre er neu geboren. Der Wald schien ihm wieder mehr ein verwunschener Ort als ein Hort des Schreckens zu sein; es war, wie sich Siggi dachte, eigentlich doch ein netter Wald. Keiner der dunklen Schatten schien mehr eine Gefahr zu bedeuten. Die Kinder sahen sich gar nicht mehr nach ihren zwergenhaften Verfolgern um; sie fürchteten gar nicht mehr, einer könnte in der Nähe sein, und sie hetzen, jagen und …
Keiner von den dreien fragte sich, wohin sie die Raben sie führten. Sie alle waren umgeben von Geborgenheit, Sicherheit und einer seltsamen Ruhe. Für die drei stand außer Frage, dass die Raben sie auf einen Weg geleiteten, der sie nach Hause und in die Obhut der Eltern bringen würde. Wo dieser Weg entlangführte, interessierte sie nicht; wichtig war das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Das gelegentliche Grollen des Donners klang in ihren Ohren nur noch wie eine ferne Erinnerung an schlimme Zeiten, aber ein Blick auf die majestätische Erhabenheit, mit der die Raben durch den Wald flogen, ließ selbst diese Erinnerung schwinden.
Sie hatten keine Vorstellung davon, wie lange sie so gegangen waren. Zeit spielte im Moment keine Rolle mehr. Alles würde gut werden, das war das Wichtigste.
Ohne Vorwarnung traten sie aus dem Wald heraus und standen vor einer Felswand, in der ein großes dunkles Loch klaffte, eine der zahlreichen, uralten Höhlen dieser Gegend, die zu Abenteuern einluden.
Noch vor kurzer Zeit hätte die Kinder der Anblick dieses Schlundes in helle Panik versetzt, aber diese Höhle löste kein Erschrecken aus. Die innere Ruhe, die sie erfüllte, ließ sie der Dinge harren, die da kommen mochten.
Die beiden Vögel kreisten vor der Höhle, und im Chor stießen beide einen weithin hörbaren Schrei aus, der in den Ohren der Kinder wie Musik klang. Jeder von ihnen fragte sich, wieso Raben einen so üblen Ruf hatten. Diese beiden hier konnten nicht dafür verantwortlich sein. Sie waren majestätische Vögel, und sie schienen sich dessen bewusst zu sein.
Die Raben flogen den vor der Höhle hängenden Ast einer uralten Eiche an und ließen sich darauf nieder. Dort ordneten sie ihr Gefieder, nicht hektisch, sondern als hätten sie alle Zeit der Welt. Dann schienen sie zu Statuen zu erstarren, Wächtern gleich, die auf ein Ereignis warteten.
»Wir sollen doch wohl nicht in die Höhle gehen?«, fragte Siggi und brach das Schweigen.
»Ich weiß nicht«, sagte Hagen. »Eigentlich will ich nicht. Es ist …«
In die Herzen der drei schlich sich wieder für einen Moment der Schatten der Furcht und des Zweifels.
»Kommt«, ertönte da die vertraute Stimme des Mannes mit dem Schlapphut, dem Umhang und dem Stab. »Kommt herein!«
Wie unter einem geheimnisvollen Zwang setzten sich die Kinder in Bewegung. Die Angst und die Bedenken waren wie weggeblasen. In diesem Moment schien die Wolkendecke zu zerreißen, der Nebel wurde durch eine gewaltige Bö weggefegt und das Licht der untergehenden Sonne fiel in die Höhleneingang.
Siggi, Gunhild und Hagen traten in die Höhle, welche sich als langer Tunnel entpuppte, der nach wenigen Metern einen Knick machte. Der Gang war über zwei Meter hoch. Die letzten Sonnenstrahlen zeigten ihnen den Weg. Dann kamen sie um den Knick herum, und das Licht von draußen verließ sie.
Aber dennoch war es war nicht völlig dunkel. Von den Wänden der Höhle ging ein fahles Glimmen aus, matt, aber hell genug, dass man die Hand vor den Augen sehen konnte.
Plötzlich spürte Siggi einen Luftzug über sich. Die Raben strichen über sie hinweg ins Höhleninnere. Er versuchte, sie mit den Augen zu verfolgen, aber die schwarzen Leiber verschmolzen allzu bald mit dem dunklen
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