Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
Feuersee zuckte, sich in den Milliarden spiegelnder Flächen und Blasen erkalteter Lava brach und schließlich gebündelt auf dem höchsten Punkt zusammentraf: dem Hammer in Siggis Faust.
Der Blitz durchfuhr Siggi von Kopf bis Fuß, doch er versengte ihn nicht; vielmehr schien der Junge zu wachsen, sich auszudehnen. Sein Brustkorb wölbte sich; seine Arme wurden stark und muskulös; rotblond flammendes Haar umwallte sein Haupt. Vor Alberich dem Zwergen stand Thor, der Donnergott, der seinen Hammer Mjölnir zum furchtbaren Schlag erhoben hielt.
Und doch war es nicht Thor allein, sondern in dieser Gestalt war auch etwas von Siggi – von dem Helden, der in Siggi lebte und in Siegfried gelebt hatte, aber auch etwas von dem Midgard-Knaben, der so viel Mut brauchte, um seine eigene Angst zu bezwingen.
Thors Hammer tat seinen ersten Schlag.
Heißer als die Glut, die in der Erde brennt, ist die Kraft in den Herzen der Helden. Der blendende Blitz, der von dem Speer ausging, riss Siggi in einen Wirbel aus Licht. Und er ritt mit Thor in seinem von Böcken gezogenen Wagen über die Fluren von Asgard, watete durch die Ströme, die so seltsame Namen hatten wie Fimbulthul, Örm und Ising. Denn Thor fuhr in das Reich der Riesen, um seinen Hammer heimzuholen, und das kam so:
Eines Morgens war Thor erwacht und hatte seinen Hammer nicht vorgefunden. Weder Flüche noch Drohungen halfen, doch der Dieb gab sich bald zu erkennen. Es war kein anderer als Utgard-Loki, der König der Riesen, und als Lösegeld für Thors Hammer verlangte er nichts weniger als die Hand Freyas, der Göttin der Liebe.
Odin rief sofort eine Ratsversammlung der Asen ein. Tyr und Njörd stimmten für einen bewaffneten Einmarsch, doch Odin sprach: »Ein Krieg gegen die Riesen würde uns teuer zu stehen kommen. Weiß niemand einen besseren Rat?« Da sagte Loki: »Lasst es uns deshalb mit einer List versuchen. Soll Thor als Frau verkleidet gen Jötunheim reisen und den Hammer als Brautgabe verlangen.« Dies sagte er nur, weil er Thor der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Doch die anderen hießen den Plan gut, und so musste auch der Donnergott mit Zähneknirschen zustimmen.
So reiste Thor zur Burg der Riesen, in wallenden Gewändern und mit Zorn im Herzen, und sprach sein Begehr. Darauf erwiderte der König der Riesen: »Drei Proben will ich dir auferlegen, ehe ich dir den Hammer Mjölnir in den Schoß lege. Bist du bereit, sie zu wagen?«
»Nur zu!«, sagte Thor.
Als erste Probe sollte er mit Utgard-Loki selbst um die Wette essen. Doch als der mächtige Thor sein Mahl verschlungen hatte – und Thor war der größte Esser unter den Asen -, stellte er fest, dass der König der Riesen die gleiche Menge verzehrt hatte und noch die Knochen und den Trog obendrein.
»Wenn die Maid nicht essen kann, mag sie wenigstens trinken!«, sprach der König der Riesen. Als zweite Probe gab er Thor ein großes Horn voll Wasser zu leeren, doch so viel dieser auch schluckte – und Thor war der größte Trinker unter den Asen -, fand er den Spiegel des Wassers doch nur wenig gesenkt.
»Wenn die Maid nicht trinken kann, kann sie wohl auch nicht kämpfen.« Als dritte Probe ließ er Thor einen Ringkampf austragen, doch zum Gegner benannte er eine alte Frau, die so schwach aussah, dass ein Windstoß sie umwehen könnte. Doch als Thor mit ihr rang – und Thor war der größte Ringkämpfer unter den Asen -, konnte er sie doch nicht besiegen und wurde schließlich selbst mit einem Knie zu Boden gezwungen.
Da sprach Utgard-Loki: »Ich, gegen den du im Wettessen angetreten bist, bin kein anderer als das Feuer, das alles verschlingt. Und das Horn, aus dem du getrunken hast, war das Meer, und so gewaltig hast du getrunken, dass es dort nun auf ewig Ebbe und Flut gibt. Die Frau aber, die du nicht besiegen konntest, war das Alter, das am Ende selbst die Götter in die Knie zwingt. Du bist wahrhaft würdig, meine Frau zu werden.« Und er legte der als Braut gewandeten Gestalt den Hammer Thors in den Schoß.
Da hob die Maid den Hammer hoch …
… und Mjölnir tat seinen zweiten Schlag.
Heller als das Feuer, das in den Herzen der Helden brennt, ist das Licht im Auge der Götter. Wieder wurde Siggi hinweggetragen in einem wilden Wirbel; wieder reiste er mit Thor auf seinem von Böcken gezogenen Wagen. Doch diesmal ging die Reise hinab in die Unterwelt, das Reich der Hei, und das kam so:
Baldur, Odins Sohn, war der schönste unter den Göttern. Eines Morgens kam er zu seinem Vater und
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