Die Kinder des Dschinn. Das dunkle Erbe der Inka
das Denken, was einer derGründe dafür war, dass sie, kurz bevor sie auf die klaffende Grube zurannte, noch überlegte, aus was die gelben Kristalle an den Höhlenwänden wohl bestehen mochten, und ein Stück davon in die Tasche steckte, um es sich später genauer anzusehen.
Im allerletzten Moment, gerade als sie absprang, hörte Philippa Miesito rufen und sah Groanin winken, als wollten die beiden sie anfeuern. Sie war bereits in der Luft, als ihr klar wurde, dass sie ihr in Wirklichkeit zugerufen hatten, stehen zu bleiben. Warum, war nicht schwer zu erraten. Der Luftstrom war versiegt. Für einen unerträglichen Schreckensmoment schwebte Philippa in der Luft über der Grube, statt den Schacht hinaufgeblasen zu werden. Dann begann sie zu fallen.
E l T unchi
Felsenfest davon überzeugt, dass nicht er, sondern Nimrod plötzlich wie vom Erdboden verschwunden war, lief John minutenlang durch das verlassene Lager, rief nach seinem Onkel und schlug mit der Machete ins dichte Gebüsch. Er fragte sich, ob Nimrod aus eigenen Stücken verschwunden oder ob eine andere Macht im Spiel war.
El Tunchi
vielleicht. Das erschien ihm wahrscheinlicher. Nimrod gehörte nicht zu der Sorte von Onkeln, die ohne ein Wort verschwanden. Kaum ging ihm dieser Gedanke durch den Kopf, hörte er das Pfeifen wieder. Dieses Mal hütete sich John, durch eigenes Pfeifen darauf zu reagieren. Er ahnte nicht, dass es bereits zu spät und die Rache von
El Tunchi
schon über sein junges Haupt gekommen war.
Diesmal schien es, als könnte er dem Pfeifen nachgehen, das stärker wurde, je tiefer er in den Wald eindrang. Angst hatte er nicht. Schließlich war er ein Dschinn und er spürte seine Kraft, als er auf eine sonnige Lichtung trat. Er bekam es nicht einmal mit der Angst zu tun, als er den Furcht einflößenden Urheber des melodischen Pfeifens endlich erblickte. Dieser trug eine schmutzige Felldecke um die breite Taille und sein schwarzes Haar war lang und zottig. Die obere Hälfte seines Gesichts warschwarz bemalt, die untere Hälfte weiß. Bemerkenswert an der oberen Hälfte war die Tatsache, dass er nur ein Auge hatte. Während die untere Gesichtshälfte vor allem dadurch auffiel, dass der Mann den Kopf einer lebenden Eidechse im Mund hatte und sich den Rest des schwarz-weißen Reptils, den Schwanz und den Körper, wie eine gestreifte Kette um den Hals geschlungen hatte. Durch den Kopf der Eidechse schien der Mann zu pfeifen und, wie John bald feststellte, auch hauptsächlich zu sprechen. Ja, es schien fast so, als habe eigentlich die Eidechse die Kontrolle über den Mann. Das Seltsamste überhaupt aber war wohl die unbeschwerte kleine Melodie, die mit der Erscheinung des Mannes so gar nicht in Einklang stand und die das Eidechsenmaul unaufhörlich weiterpfiff.
»Sie pfeifen ausgesprochen gut«, sagte John. »Für eine Eidechse.«
Die Eidechse hörte auf zu pfeifen. »Ich pfeife für jede Art von Kreatur ausgesprochen gut, ob sie tot ist oder lebendig«, zischelte sie.
»Und es ist ein sehr schönes Lied«, sagte John.
»Hat dir deine Mutter nie beigebracht«, erkundigte sich der Eidechsenmann, »dass man auf einer Theaterbühne nicht pfeifen darf? Oder auf einem Schiff? Oder in einem Haus, weil man sonst den Teufel hereinbittet? Und vor allen Dingen, dass man nie im Regenwald pfeifen darf?«
»Nein«, sagte John. »Hat sie nicht. Aber sie ist sowieso nicht wie andere Mütter. Eigentlich ist sie nicht mal mehr wie meine Mutter. Zumindest nicht, seit sie aussieht wie jemand anderes.«
»Du redest Unsinn, Junge«, zischelte der Eidechsenmann.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte John. »Ein andermal vielleicht.«
»Du scheinst keine Angst vor mir zu haben.«
»Hab ich auch nicht«, sagte John achselzuckend. »Wie kommen Sie dazu, meinen Onkel Nimrod einfach verschwinden zu lassen?«
»Er ist nicht verschwunden. Du bist es.«
»Und wer sind Sie, dass Sie Leute einfach so verschwinden lassen?«
»Ich bin
El Tunchi
. Ein Schamane. Ein Medizinmann, der im Regenwald starb, als ihn spanische Konquistadoren vor fünfhundert Jahren zu Tode folterten. Sie waren natürlich hinter Gold her. Und weil sie glaubten, dass sie alle reich werden würden, pfiffen sie gern. Sie pfiffen sogar, als sie mich folterten, damit ich ihnen verriet, wo sie Gold finden konnten. Niemand hat in Südamerika gepfiffen, ehe sie auftauchten. Niemand wusste, wie es geht. Seitdem bin ich hier, um alle zu bestrafen, die es wagen, wie sie im Dschungel zu pfeifen. Das
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