Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
der Staub des Todes und der Verwesung nicht nur die Augen verklebte, sondern ihnen auch in Mund und Atemwege drang.
John gewann als Erster die Fassung zurück und leuchtete an Dybbuk vorbei, der die Skelette von sich schob und dann in den hintersten Winkel des unterirdischen Gebeinhauses flüchtete. Die Rückwand des Gewölbes bestand aus gemauertem Stein; doch der Mörtel war brüchig und Dybbuk hatte bereits ein Loch gegraben, das groß genug war, um sich hindurchzuzwängen. Auf dem Bauch rutschte John an Dybbuk vorbei, um sich die Sache anzusehen, und steckte Kopf und Schultern in die Öffnung. Das zwang die anderen beiden, ihm zu folgen, denn John hatte die Taschenlampe, und weder Philippa noch Dybbuk war danach zumute, allein mit all diesen toten Männern in der Dunkelheit zurückzubleiben.
Als er vor sich einen großen freien Raum erblickte, ohne jede Spur von Skeletten, schob sich John durch das Loch, und schon ein kurzes Stück weiter stellte er fest, dass er aufstehen konnte. Mit einem Seufzer der Erleichterung, der diesmal nicht vom Staub menschlicher Gebeine erfüllt war, drehte er sich zu seinen Gefährten um. John lächelte.
»Sieht aus, als gäbe es doch einen Weg hier raus«, sagte er und leuchte mit der Taschenlampe auf eine Reihe uralter Steinstufen, die vor ihnen anstiegen.
»Gott sei Dank«, sagte Philippa.
»Das ist die gute Neuigkeit.«
»Und die schlechte?«, fragte Dybbuk.
»Hast du’s noch nicht gemerkt? Es ist eiskalt hier drin. Sieh nur.« John hauchte in den Strahl der Taschenlampe. »Man kann den eigenen Atem sehen.«
»Fühlt sich trotzdem besser an als das Wasser«, murmelte Dybbuk.
»Stimmt«, sagte John. »Aber solange es so kalt ist, können wir unsere Dschinnkräfte nicht einsetzen.«
Dybbuk zuckte die Achseln. »Die Stufen müssen an die Oberfläche führen. Und da ist es heiß. Also sollten wir hinaufgehen. Je schneller ich in die Sonne komme, desto besser. Ich komme mir schon vor wie eine Schlange im Kühlschrank.«
»He«, sagte John. »Das hab ich vor lauter Skeletten und kaputten Taschenlampen fast vergessen.«
Er zog den Lederbeutel aus seinem Gürtel, gab Dybbuk die Taschenlampe und zog den Beutel vorsichtig auf. Darin lag ein etwa fünfzehn Zentimeter langer Gegenstand, der in mehrere Lagen wasserdichtes Papier eingeschlagen war. John entfernte das Papier, und als Dybbuk den Gegenstand, der jetzt auf seiner ausgestreckten Hand lag, mit der Taschenlampe anleuchtete, stockte ihm der Atem.
Es war die Gestalt einer aufgerichteten Königskobra. Der Körper der Schlange war aus purem Gold; Kopf und Halsschild dagegen waren so gefertigt, dass ein riesiger Smaragd hineinpasste. Der Schwanz – Dybbuks Meinung nach nicht ganz stimmig, weil er eher dem einer Klapperschlange ähnelte als dem einer Kobra – bestand aus vier gelben, in Gold eingefassten Weisheitszähnen. Es war dieses letzte Detail und weniger die Größe des Koh- E-Qaf -Smaragds, der den Kobrakönig zierte, das sie eine Weile schweigsam ließ.
»Kaum zu glauben, nicht wahr?«, sagte John schließlich. »Dass diese vier Zähne einmal dem alten Rakshasas gehört haben sollen.«
»Daran merkt man erst, wie alt er schon ist«, sagte Dybbuk und zuckte dann mit den Achseln. »Immerhin ist jetzt klar, warum Hermann Göring so versessen darauf war. Dieser Smaragd ist größer als ein Hühnerei. Er muss ein Vermögen wert sein.«
»Ja, aber der Geldwert ist noch gar nichts gegen die Macht, die man damit über Rakshasas gewinnt«, sagte John. »Stell dir nur mal vor: ein Dschinn, der alles tut, was man sagt. Ich frage mich, ob Göring davon gewusst haben kann. Ob er gewusst hat, wie reich und mächtig ihn der Besitz des Amuletts hätte machen können.«
»Wenn ihr mich fragt«, sagte Philippa, »ist dieses Ding böse. Ich finde, wir sollten es zerstören. Es in Stücke schlagen und die Überreste zusammen mit den Schädeln und Knochen in den Brunnen werfen, wo sie niemand mehr finden kann. Mitsamt dem Smaragd.«
»Spinnst du?«, sagte Dybbuk. »Nach allem, was wir durchgemacht haben, um das Ding zu finden?« Er schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Falls du es vergessen hast: Ich habe eine Menge mehr dafür geopfert, hierher zu kommen. Zwei Freunde von mir sind tot.«
»Ein Grund mehr, mir zuzustimmen«, beharrte Philippa. »Ist euch klar, wie gefährlich es sein könnte, das Ding zu behalten? John, wie denkst du darüber?«
John seufzte. Sein kalter Atem sah aus wie eine Kumuluswolke. Es war kaum
Weitere Kostenlose Bücher