Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
nackten Brustkorb, der ebenso gelb beschmiert war wie seine Stirn und die Wangen. Dann hob er die Hände wie ein Baptistenprediger und seine Anhänger verstummten.
»Ich gebe euch die Quintessenz dessen, wonach ihr strebt«, verkündete der Guru mit lauter, unheimlicher Stimme. »Und den Beweis für das, was nicht sichtbar ist. Wer mir nachfolgt und gehorsam ist, ob Mann oder Frau, der wird Wundernteilhaftig werden und Macht über Leben und Tod erlangen. Heute Nacht, meine Freunde, heute Nacht werde ich euch diese Macht vor Augen führen. Eine Macht, die stärker ist als Logik, stärker als alle Argumente. Ja, meine Kinder, eine Macht, von der ihr alle Zeugnis ablegen sollt.«
Der Guru klatschte in die Hände, woraufhin zwei seiner Anhänger einen Glasbehälter herbeitrugen, in dem es vor Schlangen nur so wimmelte. Offensichtlich beabsichtigte der Guru, sie irgendwie vorzuführen.
»Das muss der Grund für die Kälte sein«, flüsterte Dybbuk. »Schlangen sind wechselwarme Tiere. Ihre Körpertemperatur richtet sich nach der Umgebungstemperatur. Wenn ihr Körper zu kalt wird, werden sie träge und matt. Wahrscheinlich sind sie dann leichter zu handhaben.«
»Aber die hier nicht«, stellte John fest. »Seht nur. In dem Behälter ist eine Infrarotlampe. Diese Schlangen sind warm.«
Er hatte den Satz noch nicht beendet, als einer der
Sadhaks
einen langen Stock nahm und damit im Behälter herumstocherte, als wollte er die Schlangen wütend machen. Mit Erfolg. Eine von ihnen, eine riesige Königskobra, biss nach dem Stock und die drei Dschinnkinder begriffen in ihrem Versteck in der Statue sehr schnell, dass Guru Masamjhasara keineswegs vorhatte, sich mit matten, kaltgestellten Schlangen abzugeben. Er wollte wütende, aggressive Schlangen.
Feierlich schritt er auf den Behälter zu und holte die Königskobra heraus; im nächsten Augenblick biss ihn das Tier so heftig, dass ihm das Blut über den Arm lief und damit Dybbuks nächste Vermutung entkräftete – dass man den Schlangen die Giftzähne entfernt hatte.
Als er sah, dass er gebissen wurde, grinste der Guru vor Freude und holte eine weitere Kobra heraus, die ihn nicht nur einmal, sondern gleich mehrere Male biss. Eine dritte Kobra grub ihre Giftzähne so tief in seinen Unterarm, dass er sie nicht mehr herausziehen konnte und die Schlange an seinem Arm baumelte, bis die Zähne unter dem Gewicht ihres zappelnden Körpers abbrachen und sie zu Boden fiel; der Guru hob die Schlange auf und legte sie sich wie einen Seidenschal um den Hals. Als er die siebte Schlange herausholte, war er schon mehr als doppelt so oft gebissen worden, was ihm nicht das Geringste auszumachen schien.
»Das kapier ich nicht«, sagte Dybbuk. »Er müsste längst tot sein. Oder wenigstens im Koma liegen.«
John sah Philippa an. »Denkst du das, was ich denke?«, fragte er und dachte daran, was Baron von Renner, der Yeti, ihnen auf dem Annapurna erzählt hatte: dass Dschinn gegen Schlangengift immun waren. »Ist er vielleicht einer von uns?«
»Ein Dschinn?« Philippa schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn er wirklich ein Dschinn wäre, würde er die Temperatur in diesem Höhlentempel nicht künstlich unten halten. Schließlich würde er dabei riskieren, vor den Augen seiner Anhänger seine Dschinnkräfte zu verlieren. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er sich einfach eine Unmenge Gegengift verabreicht.« Doch das schien ziemlich unwahrscheinlich. Die Schlangen waren große, kräftige Kobras, von denen jede einzelne eine gehörige Menge Gift absondern konnte. »Allerdings müsste es schon eine unglaubliche Menge Gegengift gewesen sein.«
»Seht die Zeichen«, erklärte der Guru, dem inzwischen soviele Schlangen um den Hals hingen, dass er aussah wie ein geschmückter Weihnachtsbaum. »Und glaubt an meine gewaltige Macht. Denn ich sage euch, die Zeit ist nahe, da wir über die Erde herrschen werden.«
Der Guru holte zwei weitere Schlangen heraus und hielt sie – unter neuen Bissen – in die Höhe, damit alle sie sehen konnten. »Acht war die Anzahl der Schlangen, von denen mein Vorgänger, Aasth Naga, sich auf einmal beißen ließ. Doch ich bin mächtiger als er, denn ich habe die Macht, dem Gift von neun Kobras zu widerstehen. Ich gebe euch die neun Kobras.«
Wieder stimmten die Zuschauer des Gurus an: »NA-GA, NA-GA, NA-GA …«
»Mann, ist das unheimlich«, flüsterte Dybbuk. »Die Leute sind total plemplem.«
»Das ist noch milde ausgedrückt«, sagte Philippa. »Es sind Mörder,
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