Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
immer ihm widerfahren war, nur von kurzer Dauer sein würde.
Guru Masamjhasara – in Hindi bedeutet
ma samjha sara
: »Ich verstehe euch alle« – stieg von seinem Zahnarztstuhl herab und kam langsam auf Groanin zu, während er ihn mit seinem wildesten Hexerblick fixierte.
Groanin, der zwischen zwei größeren
Sadhaks
eingezwängt war, ertrug die Prüfung des heiligen Mannes ohne ein Wort und beklagte sich selbst dann nicht, als der Guru ihm eine übel riechende Hand auf den Kopf legte und die Augen schloss, als wollte er Groanins Gedanken lesen.
»Sind wir uns schon einmal begegnet?«, fragte der Guru, ohne sich zu bewegen.
»Nicht vor dem heutigen Tag«, erwiderte Groanin. »Ich meine, dem gestrigen. Und an eine so herausragende Persönlichkeitwie Euch, Eure Heiligkeit, würde ich mich mit Sicherheit erinnern.«
Hinter den Augenlidern rotierten die Augäpfel des Gurus, als folgten sie der Umdrehung der Erdkugel. Dann wiederholte er die Frage, als habe er Groanin überhaupt nicht zugehört oder als glaube er ihm einfach nicht – es war schwer zu sagen, was davon zutraf.
»Nein«, sagte Groanin.
Und doch
… Aus der Nähe betrachtet, kam ihm der Guru tatsächlich ein wenig bekannt vor. Es war fast so, als seien sie sich vor vielen Jahren wirklich schon einmal begegnet. Vor allen Dingen der Mundgeruch des Gurus kam Groanin bekannt vor. Er roch wie ein Fisch, der mit nichts als einem Töpfchen Jogurt zur Gesellschaft an einem sehr heißen Tag in einer Plastiktüte verendet war. Und hinter dem struppigen Rauschebart verbarg sich ein Gesicht, das Groanin vielleicht doch schon einmal gesehen zu haben meinte. Allerdings irritierte ihn der Bart. Oder besser gesagt, das, was sich alles darin befand, denn jetzt, wo er Guru Masamjhasara aus der Nähe sah, erkannte Groanin all die Essensreste, die sich in diesem Gestrüpp verfangen hatten, nachdem sie ihm bei den verschiedenen Mahlzeiten in den vergangenen Wochen aus dem Mund oder von der Gabel gefallen waren: ein Maiskorn, ein oder zwei Pilaw-Reiskörner, eine gefüllte Nudel, ein Orangenkern und eine Spaghetti. Von dem alten Kaugummi, dem Zigarettenstummel und dem Rotzstreifen gar nicht zu reden.
»Sie müssen wissen, dass ich in Bezug auf Menschen ein eingebautes Frühwarnsystem habe«, erklärte der Guru mit seiner dünnen und betont britischen Fistelstimme undspreizte die Finger auf Groanins Kopf wie die Tentakel eines Oktopus. »Und Sie, mein Freund, Sie machen mir Sorgen.«
»Ich wüsste nicht, warum«, erwiderte Groanin. »Ich bin ein Niemand.«
»O nein«, kicherte der Guru immer noch mit geschlossenen Augen. »Ich sage jedem, der in den Aschram kommt, dass er einzigartig ist. ›Du bist einzigartig‹, sage ich zu ihm. Und das stimmt. Jeder Mensch ist jemand.« Er redete, als hätte er den Kopf gerade aus den Wolken gezogen. »Vor allem die Leute, die behaupten, niemand zu sein.« Langsam öffnete er die Augen.
»Vielleicht verwechseln Sie mich mit jemandem, Sir. Jemandem, dem ich ähnlich sehe, vielleicht.«
»Das glaube ich nicht«, sagte der Guru. »Sie sind ein sehr vornehmer Mann, Mr Gupta. Und ich bin in meinem Leben nur wenigen Männern mit nur einem Arm begegnet. Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich mich eigentlich nur an einen einzigen einarmigen Mann erinnern.«
Groanin lächelte. »Nun ja, wenn das so ist, verstehe ich, warum ich Ihnen bekannt vorkomme«, sagte er kühl. »Ja, ich glaube, Sie haben Recht. Es ist äußerst ungewöhnlich, nur einen Arm zu haben. Ich bin selbst noch nicht vielen Einarmigen begegnet.« Groanin hielt es für das Beste, den Guru zu überzeugen, dass er sich geirrt hatte. Aus diesem Grund zog er unversehens seinen neuen Arm aus der weiten
Kurta
. »Aber wie Sie sehen, Sir, habe ich zwei Arme.«
»Eigenartig.« Der Guru runzelte die Stirn. »Wirklich eigenartig. Ich hätte geschworen, dass Sie nur einen Arm haben«, sagte er. »Aber warum verstecken Sie Ihren Arm auf dieseWeise?« Er nahm Groanins Hände und drückte sie, als wollte er prüfen, ob sie echt seien. »Ihre Yogalehrerin, Miss Crabbe, hat es auch gedacht.«
»Sir, ich gebe zu, dass ich gehofft hatte, mich als Einarmiger vor dem Yoga drücken zu können. Deshalb habe ich den Arm versteckt. Das war falsch von mir und ich entschuldige mich dafür.«
»Aber Sie haben ihn sehr geschickt versteckt.«
»Es ist so, Sir. Ich war früher Zauberer«, sagte Groanin. Er hielt es für das Beste, wenn sich seine Geschichte mit derjenigen deckte, die die
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