Die Kinder des Dschinn. Entführt ins Reich der Dongxi
englischen Nachmittagstee. Philippa mochte Tee nicht besonders.Sie widerstand der Versuchung, Nimrod zu sagen, dass er sich ziemlich spießig benahm, und folgte seinem Rat, auch wenn sie es kurz darauf fast wieder bereute. Ja, es dauerte nicht lange, ehe sie sich von der Piazza San Marco fortwünschte. An der Hitze lag es nicht. Damit haben Dschinn so gut wie nie Probleme. Doch die ungeheuer vielen Menschen gingen Philippa auf die Nerven, denn es schien, als seien alle darauf erpicht, sich unbedingt das Gleiche anzuschauen wie sie. Sie musste sich in eine lange Schlange einreihen, um den Dogenpalast zu besichtigen, und in eine noch längere, um den Glockenturm hinaufzusteigen. Noch nie hatte sie so viele Touristen aus so vielen Ländern gesehen. Langsam begann sie zu verstehen, warum Nimrod sich gar nichts anschauen, sondern lieber vor einem Café sitzen, Tee trinken und nachdenken wollte. Selbst von der Spitze des 99 Meter hohen Turms war sein roter Anzug leicht zu erkennen. Er war, wie sie lächelnd feststellte, die am leichtesten auszumachende Person in ganz Venedig.
Die Schlange vor dem Markusdom war besonders lang und Philippa landete mitten in einer großen Gruppe älterer chinesischer Touristen. Sie waren alle so höflich und freundlich, dass sie sich schon bald dafür schämte, sich anfangs fortgewünscht zu haben. Allerdings sprachen nur die wenigsten von ihnen Englisch. Wenn sie also über irgendwelche Dschinnkräfte verfügt hätte, hätte sich Philippa vielleicht gewünscht, Chinesisch zu können, damit sie ihnen etwas Nettes sagen konnte, während sie sich langsam an der Vorderseite der prachtvollen alten Kirche vorbei auf den seitlichen Eingang zuschoben.
Nach einer Weile begannen ihre Gedanken ein wenig abzudriften und sie dachte an ihre Mutter und daran, wie es ihrwohl ergehen mochte. Sie hoffte sehr, Faustina würde sich noch rechtzeitig genug erholen, um nach Babylon zu gehen und das Amt des Blauen Dschinn zu übernehmen. Auch Mrs Trump kam ihr in den Sinn und es bekümmerte sie, dass diese immer noch im Koma lag. Am besorgniserregendsten aber war wohl das Verschwinden von Mr Rakshasas. Ob er wirklich tot war, wie John zu glauben schien? Sie hatte es nicht gewagt, Nimrod danach zu fragen. Und sie vermutete, dass er vielleicht genau darüber nachdenken wollte: über Mr Rakshasas und die Kriegerteufel. Wahrscheinlich zerbrach er sich auch den Kopf über die Identität des mysteriösen Maerkou, der im Jadebuch des Kaisers erwähnt wurde.
In diesem Moment hörte sie es.
Nicht nur einmal, sondern mehrmals. Sie erwachte aus ihrer nachmittäglichen Träumerei und hatte fast das Gefühl, sich kneifen zu müssen, als sie einen der chinesischen Touristen mehrmals das Wort »Maerkou« aussprechen hörte. Stattdessen jedoch klopfte sie dem vor ihr stehenden Chinesen auf die Schulter und lächelte ihn freundlich an. Er reagierte mit einer höflichen Verbeugung.
»Maerkou?«, sagte sie und zog die Schultern hoch, um ihm zu zeigen, dass sie nicht wusste, was es bedeutete.
»Maerkou«, erwiderte er grinsend.
Diesmal warf sie die Hände in die Luft. »Maerkou? Was ist das?«
Der Chinese deutete auf den Dom. »Maerkou«, sagte er.
»Was ist Maerkou? Eine Kirche?«
»Maerkou.« Wieder wurde gedeutet.
Philippa schüttelte den Kopf. Der Chinese hatte den gleichenReiseführer wie Philippa, nur dass ihrer auf Englisch geschrieben war. Er nahm ihr Buch, schlug die Seite mit den Informationen über den Markusdom auf und deutete auf ein Mosaikbild des heiligen Markus.
»Maerkou«, sagte er wieder.
»Sie meinen Sankt Markus?«, sagte sie. »Den heiligen Markus?«
Der Chinese nickte. »Maerkou«, sagte er.
Ein anderer Chinese wurde in der Schlange vor ihnen ein wenig nach hinten geschoben. Er schien nur aus Zähnen und Brille zu bestehen, ein breites, hasenzähniges Lächeln stand in seinem Gesicht. Er sprach ein wenig Englisch. »Maerkou?«, sagte er. »So heißt bei uns Markus auf Chinesisch. Maerkou oder manchmal auch Maerkusi, je nachdem. Wenn man ›Markus-Evangelium‹ auf Chinesisch sagen will, sagt man
Maerku Fuyin
. Ich heiße Wong. Yat Wong. Du bist Engländerin? Ich mag Engländer.«
Philippa bedankte sich mehrmals bei ihm, damit er sie nicht für unhöflich hielt. Dann rannte sie los, zurück zu Nimrod.
Sie fand ihn dort, wo sie ihn verlassen hatte, mit geschlossenen Augen, das wache, kluge Gesicht mit der leicht gebogenen Nase wie eine Satellitenschüssel der Sonne zugewandt. Auf dem
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