Die Kinder des Dschinn. Entführt ins Reich der Dongxi
bestätigte Nimrod. »Er starb 1324. Ist es nicht so, Sir?«
»Ja. Es war im Januar. Ich bekam eine Erkältung und musste das Bett hüten. Später holten sie dann einen Priester. Und wisst ihr, dass er die Dreistigkeit besaß, mich aufzufordern, endlich einzugestehen, dass das, was ich geschrieben hatte, gelogen war? Über China, meine ich.
Sfrontato
. Welche Dreistigkeit! Aber ich habe ihm gesagt, dass ich noch längst nicht alles erzählt hätte.«
Finlay/John sahen immer noch skeptisch drein. »Da ist etwas, das Sie vorhin gesagt haben«, wandte er sich an Marco Polo. »Darüber, dass es ein bemerkenswerter Moment sei. Und davor haben Sie noch etwas gesagt. Dass wir Sie aus einem zweihundertjährigen Schlaf gerufen hätten. Sie haben doch sicher gemeint, dass Sie siebenhundert Jahre geschlafen haben?«
»Nein, nein«, sagte Marco und nahm sich noch ein Stück Schokolade. »Ich wurde schon einmal aus dem Totenreich gerufen. Ich glaube, es war 1820. Und genau in dieser Kammer. Damals erzählte ich meine Geschichte einem jungen Priester. Aber von den Kriegerteufeln drohte keine Gefahr, also blieb ichnur lange genug, um meine Geschichte zu erzählen, und kehrte dann in meine Kiste zurück.«
»Auch den Teil über die goldene Tafel?«, hakte Nimrod nach. »Wofür sie bestimmt ist. Und dass Sie sie in den Canal fallen ließen und für immer verloren?«
»Oh ja.«
»Ich frage aus reiner Neugier«, sagte Finlay. »Aber wenn Sie sagen, die goldene Tafel verlange von allen Gehorsam, welche Art von Gehorsam meinen Sie damit?«
»Giuererei di averlo.«
Marco rang beschwörend die Hände. »Niemand könnte sich ihrer Macht widersetzen, selbst wenn man es wollte.
Madonna
. Diese Art von Macht.
Übernatürliche Macht
. Der Mann, der sie findet, vermag mit der goldenen Tafel fast alles zu tun. Er könnte zu jeder Größe aufsteigen, so gering seine Verdienste auch sein mögen.«
»Ich weiß nicht, was Madonna mit all dem zu tun hat«, übermittelte Finlay John wortlos.
»Ich denke, das ist nur eine Redewendung«, erklärte John. »So wie bei Nimrod, wenn er ›Liebe Güte‹ sagt.«
»Dieser Priester«, sagte Nimrod. »Wissen Sie noch, wie er hieß?«
Marco Polo schüttelte den Kopf. »Nein. Ich sagte schon, es ist fast zweihundert Jahre her. Aber er war ein äußerst liebenswürdiger Mann. Ich mochte ihn sehr. Wir haben uns lange unterhalten.«
»Wie sah er aus?«, fragte Nimrod.
Marco machte ein typisch italienisches Gesicht und sann achselzuckend auf eine Beschreibung. »Wie ein Priester«, sagte er dann vage.
»War das der Mann?« Schwester Cristina hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, das sie aus dem Regal gezogen hatte. Darin war das abfotografierte Porträt eines Priesters zu sehen.
Marco warf einen Blick darauf und nickte.
»Ich denke schon«, sagte er.
Nimrod betrachtete das Bild. »Kardinal Daniele Marrone«, las er die Bildunterschrift vor.
»Aber als ich ihm begegnete, war er kein Kardinal«, sagte Marco.
»Dann stimmt die alte Geschichte vielleicht doch«, sagte Schwester Cristina.
»Welche alte Geschichte?«
Schwester Cristina zögerte. »Nein, tut mir leid«, sagte sie dann kopfschüttelnd. »Es ist zwar keine lange Geschichte, aber hier kann ich sie nicht erzählen. Nicht im Markusdom. Es wäre irgendwie nicht richtig, Ihnen hier von Kardinal Marrone zu erzählen.« Sie überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Wir treffen uns in einer Stunde in Raum dreiundzwanzig in der
Accademia
.«
In der Galleria dell’Accademia, auf der anderen Seite des Canal Grande, befand sich die größte Sammlung venezianischer Kunst überhaupt. Raum dreiundzwanzig beherbergte eine Sammlung mit Porträts bärtiger Männer, die in der Geschichte Venedigs eine bedeutende Rolle gespielt hatten. Es gab Bilder von einigen langweilig aussehenden venezianischen Herzögen, die man »die Dogen« nannte, von dem Astronomen Galileo Galilei, den Komponisten Vivaldi und Monteverdi, dem berühmtenTagebuchschreiber und Lebemann Casanova, Kaiser Napoleon, dem Dichter Lord Byron und vielen anderen, von denen Philippa, John und Finlay noch nie gehört hatten. Unter diesen befand sich auch ein Porträt des Kardinals Daniele Marrone, das 1820 angefertigt worden war. Und vor diesem Bild wartete Schwester Cristina auf sie.
Sie zeigte auf den Porträtierten, der den roten Talar eines Kardinals der römisch-katholischen Kirche trug. Der Mann stand in einer eichengetäfelten Bibliothek und las in einem dicken
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