Die Kinder des Dschinn. Gefangen im Palast von Babylon
bestrafe mich nicht.«
»Ich werde dich nicht bestrafen«, sagte Ayesha, dann zeigte sie auf mich. »Sie wird es tun.«
Erst schüttelte ich kurz den Kopf, doch schon fing ich an, mir eine Strafe für Poussin auszudenken. Eigentlich gehöre ich zu den Personen, die leicht verzeihen können, und unter normalen Umständen hätte ich Ayesha bestimmt gebeten, die Sache zu vergessen. Aber in mir verhärtete sich etwas, als ich an die Verzweiflung und die Angst dachte, die ich in der Hand des französischen Dschinn ausgestanden hatte. Vielleicht kam auch dazu, dass ich mir wie ein Idiot vorkam – nach all den Tricks, mitdenen er mir weisgemacht hatte, er könne mich umbringen. Jedenfalls schlug ich am Ende tatsächlich etwas vor.
»Ich finde, Sie sollten ihn den
Mann mit der eisernen Maske
lesen lassen«, sagte ich zu Ayesha. »Laut. Auf Englisch.«
»So soll es sein«, sagte Ayesha.
Das war so weit okay. Was dann folgte, fand ich doch zu gemein.
»Und wenn du mit Vorlesen fertig bist«, ergänzte sie, »wirst du wieder von vorn beginnen. Und dann wieder und wieder. Bis ans Ende aller Zeiten.«
Schon fand sich Ravioli Poussin an einen großen Stuhl gekettet, die eine Hand fest in einen eisernen Handschuh geklemmt, an den wiederum ein dickes Exemplar des Buches geschmiedet war. Er war machtlos, sich gegen den Zwang des lauten Vorlesens zu wehren.
»Während bei Hof alle Welt nur an diese Ereignisse dachte, begab sich ein Mann heimlich in ein Haus an der Place de Grève.
Es war geräumig und von Gärten umgeben, an die sich in der Rue Saint-Jean Läden von Zeugschmieden schlossen, Läden, die es gegen die Blicke Neugieriger hinreichend schützten. In seiner dreifachen Umwallung von Stein, grünem Gewächs und Lärm glich es einer Mumie, die in ihren dreifachen Sarg eingebettet ist.«
Ayesha war bereits weitergegangen, dicht gefolgt von Miss Glovejob.
»Das ist ein bisschen hart, finden Sie nicht?«, sagte ich und lief hinter ihr her.
Ayesha beachtete mich nicht.
»Okay«, sagte ich. »Aber wenn
ich
der Blaue Dschinn bin, hebe ich die Strafe auf. Ich lasse ihn laufen. Und zwar im selben Augenblick, in dem Sie tot sind.« Sie ignorierte mich weiterhin, und weil mich das wütend machte, setzte ich gehässig noch eins obendrauf: »Was schon ziemlich bald passieren dürfte – so wie Sie aussehen.« Wieder hatte ich etwas gesagt, das so gar nicht zu mir passte. Meine Mutter wäre entsetzt gewesen, hätte sie mich so reden gehört – mit einer Frau in Ayeshas Alter.
Diesmal blieb Ayesha stehen und durchbohrte mich mit einem merkwürdigen Blick. »Wie bald meinst du, dass das sein wird, mein Kind? Dass ich sterbe?«
Ich zog die Schultern hoch. »Weiß nicht. Aber wohl bald, schätze ich. Wenn Sie mich nun schon hierher gebracht haben.«
Sie lächelte kalt. »Komm mit. Es gibt etwas, das du sehen musst.«
Wir gingen ins Haus und stiegen in den Glockenturm. Ich wurde in ein kompliziertes Labyrinth aus Treppenaufgängen geführt, und wäre nicht Ayesha gewesen, ich hätte da bestimmt nie hinein- und erst recht nie herausgefunden. Im Mittelpunkt des Labyrinths zeigte mir Ayesha einen eisernen Kamin, ungefähr so hoch wie eine Giraffe. In dessen Mitte wuchs ein Busch, etwa einen halben Meter groß, mit Blüten in unterschiedlichen Abstufungen von hellem Rot bis Weiß. Der Busch verströmte einen starken Duft wie nach Zitronenschale, aber was noch seltsamer war: Die Luft um die Pflanze herum brannte in einer schwachen blauen Flamme, ohne dass dadurchder Busch einen sichtlichen Schaden nahm. Der hohe Metallkamin war in regelmäßigen Abständen markiert wie ein Lineal, und bei genauerem Hinsehen wurde mir klar, dass die blaue Flamme, die wie ein Heiligenschein um die Pflanze waberte, früher die ganze Höhe des Kamins ausgefüllt haben musste.
»Von allen Lebewesen«, sagte Ayesha, »ist es nur dem Blauen Dschinn von Babylon gegeben, seine genaue Todesstunde zu wissen. Dieser Busch im Feuer ist nichts anderes als meine Seele, Kind. Das Dschinnfeuer, das in deinem Inneren brennt, brennt für mich außerhalb meines Körpers, nämlich hier, und es ist ein Maß meiner Macht. Oder genauer ausgedrückt, ein Maß meiner schwindenden Macht. Früher reichte die Flamme bis ganz hinauf und das Leben schien fast endlos. Nun brennt sie kaum noch, wie du selbst sehen kannst. Jedes Jahr komme ich hierher, schaue mir die kleinen Blüten an und kann auf die Minute genau feststellen, wann der Tag meines Todes kommen wird. Sprich
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