Die Kinder des Ketzers
nie mehr wiedergesehen. Und die Mädchen – sie waren so verändert, als sie zu uns kamen. Alice weinte den ganzen Tag. Agnes, denke ich, hat das, was passiert war, nicht richtig verstanden, sie war ja noch so klein. Aber auch sie war anders – schreckhaft, ängstlich. Und Louise…» Er schüttelte den Kopf.
«Was war mit Louise?», fragte Catarino.
«Ich habe sie nie weinen sehen», sagte Victor. «Aber sie hat auch nie wieder gelacht. Sie sprach fast nicht mehr, sie aß kaum etwas, sie sah einen die ganze Zeit nur aus ihren großen schwarzen Augen vorwurfsvoll an, als ob wir schuld am Tod ihrer Eltern und ihres Bruders seien. In der griechischen Sage, als Castor starb, entrückten die Götter Pollux zu ihm in den Himmel. Als Louise ermordet wurde, habe ich lange geglaubt, dasselbe wäre geschehen, Gott habe sie abgeholt, um sie zu Daniel zu bringen. Ich konnte nur nicht verstehen, warum er Agnes und Alice nicht dagelassen hatte.»
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Es war ziemlich still geworden. Catarino kämpfte mit den Tränen, wie es sich für eine empfindsame junge Dame gehörte. Fabiou hatte die Stirn gerunzelt. Irgendwie hatte er das Gefühl, soeben etwas sehr Wichtiges erfahren zu haben, ohne dass er wusste, was.
«Mein Vater war dabei, als sie die Mädchen damals in dieser Höhle fanden», murmelte Victor. «Es muss schrecklich für ihn gewesen sein. Ich habe mich nicht einmal richtig von ihnen verabschieden können, mein Vater wollte nicht, dass ich die Leichen sehe, weil es so ein furchtbarer Anblick war. Auch der Totenwäscher konnte nichts mehr ausrichten… die Särge standen verschlossen in der Kirche, weil man dieses Bild niemandem zumuten konnte.»
Catarino schniefte. «Und über ihrem Grab wuchs ein Busch weißer Rosen, und wer einen Herzenswunsch hat und eine Rose bricht, dem geht er gewiss in Erfüllung.» Sie tupfte sich schluchzend mit ihrem Taschentüchlein die Augen.
Victor betrachtete sie seltsam. «Erzählt man das so? – Das war meine Mutter, sie hat diese weißen Rosen gepflanzt. Wie gesagt, es ist ihr sehr nahe gegangen… noch heute geht sie regelmäßig zum Grab der Mädchen, um für sie zu beten, wenn wir in Ais sind.»
«Aha!», sagte Fabiou.
«Was aha?», fragte Catarino.
«Na, wieder so eine Legende, für die es eine ganz logische Erklärung gibt», sagte Fabiou.
«Du bist gefühllos. Alle Männer sind gefühllos.» Catarino zog schnippisch die Nase hoch.
«Wie kam es eigentlich, dass euer Familienstammsitz damals abgebrannt ist?», fragte Fabiou nachdenklich. «Ich meine, mitten im Winter kann es wohl kaum ein Waldbrand gewesen sein!»
«Gute Frage.» Victor erschien dankbar über den Themenwechsel. «Das Haus stand leer nach Onkel Hectors Tod, Vater hatte alle Diener entlassen. Ein Unfall kann es also kaum gewesen sein. Vielleicht Brandstiftung, ein Antonius-Jünger, der sich gerächt hat.» Er zuckte mit den Achseln.
«Fabiou! Catarino!» Frederi natürlich. «Kommt ihr endlich? Die Kutsche ist angespannt!»
Sie verabschiedeten sich voneinander. Victor wirkte ziemlich bedrückt, die aufgewärmten Erinnerungen gingen ihm offensichtlich 483
ganz schön an die Nieren. Catarino tupfte ein paar empathische Tränen ab.
«Weißt du, was ich komisch finde?», sagte Fabiou zu Catarino, als sie kurz darauf Seite an Seite in Richtung Ausgang liefen.
«Nein. Was?»
«Hast du dir das Bild von Hector und Agnes Degrelho mal genau angesehen?»
Sie nickte und schniefte wieder. «So ein süßes kleines Mädchen!» schluchzte sie.
«Ich meine nicht das Mädchen!» Fabiou verdrehte die Augen.
«Den Mann, hast du dir den angesehen?»
«Ja. Schon. Wieso?»
«Ja, verdammt, ist es dir nicht aufgefallen? Es ist derselbe, der auf dem Gemälde in Omas Zimmer abgebildet ist. Das, auf dem auch unser Vater und Onkel Pierre drauf sind, und noch ein Vierter. Das mit dieser Unterschrift von den vier wahren Freunden.»
Catarino runzelte die Stirn. «Du meinst, Hector Degrelho war mit unserem Vater befreundet? Na, kann doch sein – was ist daran komisch?»
«Nun, dann müssten Frederi und Degrelho sich doch auch gekannt haben, oder? Und dann erstaunt es doch etwas, dass Frederi die Geschichte, die uns Roubert de Buous in Lourmarin erzählt hat, so überhaupt nicht bekannt vorgekommen ist!», erklärte Fabiou. Catarino sah ihn seltsam an. «Du meinst, Frederi hat gelogen?»
«Könnte man doch meinen. Und wenn das so ist, muss man sich fragen, warum.» Er erstarrte.
«Was ist?», fragte Catarino
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