Die Kinder des Ketzers
breites Gesicht sah seltsam verzweifelt aus.
«Ja?»
Couvencour rang nach Luft. «Nichts. Vergiss es.»
624
Die Plaço dei Gran Relogi lag still und leer in der Nacht. Insbesondere fehlten komplett die lustwandelnden Edelleute und deren angebetete Damen. In Ais ging ein wahnsinniger Mörder um, der nicht davor haltmachte, junge Mädchen zu töten. Man sah zu, dass man vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause war.
«Ich denke, den restlichen Weg gehe ich allein», meinte Fabiou.
«Bist du sicher?» Couvencour schien auch an wahnsinnige Mörder zu denken.
«Mein Stiefvater weiß nicht mal, dass ich weg bin. Wenn er mich mit Euch zusammen sieht, dreht er durch, schätze ich.»
Couvencour lächelte. «Da könntest du recht haben.» Sie blieben stehen, am Beginn der Carriero drecho.
«Wie waren sie?», fragte Fabiou plötzlich.
«Wer?»
Ein Bild in Oma Felicitas’ Salon. Vier junge Leute, die ihrem Portraitisten zulachten. Drei von ihnen waren binnen einer Woche gestorben.
«Eure drei Freunde. Mein Vater. Onkel Pierre. Hector Degrelho.»
Couvencour sah ihn an. Fabiou versuchte, sein Gesicht zu erkennen, doch es war nur ein dunkler Schatten.
«Sie waren die mutigsten Menschen, die mir in meinem ganzen Leben begegnet sind», sagte Couvencour. Dann legte er Fabiou die Hand auf die Schulter und schritt davon, in die Nacht hinein. Fabiou starrte ihm nach, bis die Dunkelheit seine massige Gestalt verschluckt hatte. Dann wandte er sich um und lief die Carriero drecho hinauf. Er kam unbehelligt bis zur Plaço de Sant Sauvaire. Dann begriff er, dass er beobachtet wurde.
Es war zunächst nur ein Gefühl, das Gefühl, dass etwas sich verändert hatte, dass etwas im Dunkeln auf ihn lauerte, eine Gefahr so leise und so gnadenlos wie der Tod. Er blieb stehen. Dann hörte er es.
Etwas näherte sich. Er hörte keine Schritte, kein Klappern von Sohlen auf dem Kopfsteinpflaster. Nur Atemzüge, ruhige, gemächliche Atemzüge, näherschwebend auf dem Wind. 625
Sein erster Impuls war zu rennen. Dann kamen ihm Loís’ Worte in den Sinn. Niemals rennen. Wenn ein wildes Tier dich angreift, ein Wolf, ein verwilderter Hund, darfst du nicht rennen. Wenn du rennst, erkennen sie die Beute in dir und greifen an. Ob das auch für Menschen gilt?
Das Bild des Kahlköpfigen erschien in seinem Kopf, wie er ruhig, gemächlich über das Pflaster schritt, bereit ihm die Kehle durchzuschneiden mit einer Handbewegung so normal und so nebensächlich wie ein Händedruck. Er lief weiter, langsam, besonnen, für den Fall, dass Loís recht hatte, die Ohren gespitzt, dass sie schmerzten, den Atem angehalten. Er fühlte, wie ihm kalter Schweiß in den Kragen lief. Links die Carriero de Jouque. Der kürzeste Weg, aber auch der dunkelste. Die Carriero dis Noble war etwas breiter, etwas heller, etwas belebter, vielleicht würde man dort wenigstens seinen Todesschrei hören. Ruhig der Atem hinter ihm, ruhig und gelassen. Der Jäger hatte Zeit.
Fabiou stieß einen Wutschrei aus und rannte.
Die Arme griffen nach ihm im selben Moment, in dem der Schuss krachte. Der Aufprall presste ihm die Luft aus den Lungen, als er zu Boden gerissen wurde und auf das Pflaster schlug. Er lag, reglos wie ein Käfer, der sich totstellt. Im nächsten Augenblick wurde er auf die Füße gezerrt. Ingelfingers Gesicht tanzte vor seinen Augen, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu Fabiou vorzudringen, als er schrie: «Lauf, du kleiner Idiot!»
Er lief. Rannte um die Hausecke in die Carriero de Jouque. Rannte durch die enge Häuserschlucht, man kann beide Wände mit ausgestreckten Armen berühren, ein lustiges Kinderspiel. Stürzte in den Hof, ein Licht aus dem Stall, Loís, wenn er nur genug Atem hätte, nach ihm zu rufen. Warf sich gegen die Haustür, mit beiden Händen auf das Holz einschlagend, macht auf, macht doch auf, bitte!
Die Tür flog auf, er taumelte in den Hausgang, schwang sich herum, schlug die Tür zu, keiner drückte dagegen, kein Mörder brach säbelschwingend in den Hausflur, seine bebenden Hände fanden 626
den Riegel, mit einem Quietschen schöner als der Gesang einer Sirene glitt er ins Schloss.
Der Pförtner starrte ihn an mit geweiteten Augen. Fabiou war gegen die Wand gesunken, die Hände gegen seine Stirn gedrückt. Auf seiner Hose breitete sich über dem Knie ein glänzend roter Fleck aus.
«Baroun…», begann der Pförtner.
«Alles in Ordnung.» Fabiou versuchte seine Zähne davon abzuhalten, wild aufeinanderzuschlagen. «Es ist alles in
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