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Die Kinder des Ketzers

Die Kinder des Ketzers

Titel: Die Kinder des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Klink
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«Versuchen wir es», sagte er.
    Sie liefen, Victor voraus, die anderen hinterher. Sie stolperten um die Ecke, nach links, dorthin, wo sich der Gang in eine weite Halle öffnete. Der erste Schimmer einer grauen Dämmerung sickerte durch die hohen Fensterscheiben. In ihrem Licht erkannten sie eine breite Treppe, die sich quer durch die Halle ins obere Stockwerk schwang. «Schnell!», schrie Frederi, dessen Stimme inzwischen ziemlich nach Panik klang, und sie rannten über weiße Marmorplatten, stürzten auf einen Gang zu ihrer Rechten zu, der sich im morgendlichen Zwielicht verlor. Die Halle erschien ihnen riesenhaft, unendlich weit war der Korridor entfernt. Und an der anderen Seite der Halle öffnete sich eine Tür. Es waren tatsächlich die Landsknechte, deren Bekanntschaft Catarino und Hannes bereits gemacht hatten, das bewiesen die Rußschmierer in ihren Gesichtern und die Brandflecken auf ihrer Kleidung. Archimède Degrelho stand neben dem Capitaine, fuchtelte wild mit den Armen durch die Luft. «Da sind sie!», kreischte er.
    «Da!»
    Sie blieben stehen, direkt am Fuß der Treppe, die sich hinter ihnen in die Höhe schwang. Cristino begann zu wimmern. Sie waren verloren, so viel war klar. Die Landsknechte waren dem rettenden Gang viel näher, der Fluchtweg war versperrt.
    «Nach oben!», schrie Victor und wies die Treppe hinauf. «Wir können versuchen, durch ein Fenster zu fliehen!»
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    «Ein Fenster! Im ersten Stock! Wir alle! Bevor wir das schaffen, haben die uns zehnmal eingeholt!», keuchte Couvencour. Seltsam, doch alle Augen wandten sich Louise zu, so als sei es wirklich Hector Degrelho, der da vor ihnen stand, der früher stets gewusst hatte, was zu tun war, und der auch in dieser Situation einen Ausweg finden würde.
    Am anderen Ende der Halle verharrte der Capitaine, während sein Blick seine Gegner taxierte, während er abschätzte, mit wie viel Gegenwehr von ihnen zu rechnen sei.
    Louise stakste vorwärts, in die Halle hinaus. Sie hustete. Schaumiges Blut lief aus ihrem Mundwinkel, ihre Augen waren glasig.
    «Kurz könnten wir sie aufhalten», sagte sie.
    Einen Augenblick lang sahen Sébastien, Frederi und Rouland einander an. Dann nickten sie. «Victor», sagte Frederi. «Ihr bringt meine Kinder in Sicherheit. Ich verlasse mich auf Euch.»
    Rouland zog seinen Degen. «Verflucht sollst du sein, Archimède Degrelho», donnerte er.
    «Man soll nicht fluchen, wenn’s ans Sterben geht!», nörgelte Frederi.
    «Mein Gott, Frederi, nerv mich nicht!», fauchte Rouland. Dann drehte er sich um, und sie liefen los.
    «Neiiiin!», kreischte Cristino. «Louise!» Victor packte sie am Arm. «Lauf!», brüllte er.
    Sie hatten den ersten Treppenabsatz erreicht, als unten die Waffen aufeinanderprallten. Fabiou blieb stehen, starrte in fasziniertem Entsetzen in die Halle hinunter, auf Louise, Sébastien, Rouland und Frederi, die sich gegen fünfzehn Landsknechte zur Wehr zu setzen versuchten. «Fabiou, komm!», schrie Victor, und er rannte weiter, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinter den anderen her, die die Treppe hinaufstürmten, Catarino und Hannes als Erste, dann Bruder Antonius, und dann Victor und Cristino.
    «Fabiou!»
    «Aber… aber wir können sie doch nicht im Stich lassen… wir können doch nicht…»
    «Fabiou, es ist unsere einzige Chance!»
    Irgendwo in der Menge, da war Couvencour, der sich mit ausladenden, kräftigen Schwüngen um sich selbst drehte, in dem ver977
    zweifelten Versuch, gegen drei Gegner auf einmal zu kämpfen, irgendwo war Frederis Aufschrei, als er auf die Knie sackte und den Degen in die Luft riss, um den Schlag eines Landsknechts abzuwehren. Irgendwo war Louise, taumelnd wie ein Schlafwandler, ziellos staksten ihre Beine umher, knickten weg unter ihrem Körper. Irgendwo war Sébastien, selbst jetzt haftete seinem Kampfstil noch ein Rest erschöpfter Ästhetik an, aber sein Wams war bereits blutdurchtränkt.
    «Oh Gott, die bringen sie um, sie werden alle sterben!»
    «Fabiou, Himmel, komm!»
    Warum er es tat, konnte Fabiou nie begreifen. Es machte keinen Sinn, es war gegen die Gesetze der Logik, denn Louise war so sicher dem Tod geweiht, wie man es nur sein konnte, wenn man einen durchlöcherten Brustkorb hatte und von sechs mordlustigen Landsknechten angegriffen wurde, es gab nicht den geringsten Grund für Archimède Degrelho, sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Vielleicht war es die Wut über die Geschehnisse dieser Nacht, die ihn in diesem Moment selbst zur

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