Die Kinder des Ketzers
war stehengeblieben.
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«Was ist?»
«Ich höre etwas. Du nicht?»
«Nein», sagte Couvencour.
«Mann, putz dir die Ohren! Hörst du das denn nicht? Das Klirren?»
«Klirren? Du hörst Gespenster, Frederi.»
«Verflucht, ich hatte schon immer bessere Ohren als du, und ich sage, da klirrt es irgendwo!»
«Also, das Einzige, was ich höre, ist…»
Frederi erfuhr nie, was Rouland de Couvencour gehört haben mochte, denn in diesem Moment stolperte etwas aus einer Tür zur Linken, prallte gegen Frederi, der einen Entsetzensschrei ausstieß, ansonsten aber mit unfassbarer Geschwindigkeit reagierte, das Wesen gegen die Wand stieß und ihm den Degen an die Kehle setzte. «Keine Bewegung!», keuchte er.
«W…wer seid Ihr, w…was wollt Ihr hier?», stotterte der Überwältigte.
«Victor?», fragte Fabiou erstaunt.
«F… Fabiou, ein Glück!» Victor ließ sich gegen die Wand sinken.
«Cristino, wir müssen sofort Cristino helfen, oh Gott…»
«Wo sind sie?», stieß der Cavalié hervor.
«Ich weiß nicht! Da lang, schätze ich!» Victor befreite sich aus Frederis Umklammerung und taumelte benommen den Gang hinunter.
«Frederi, du hast recht», murmelte Rouland.
«Ach.»
«Da klirrt es wirklich. Himmel, da wird gekämpft!»
Sie liefen. Victor voraus, der vorwärts wankte wie ein Betrunkener, die anderen hintendrein. Der Degengriff war schweißnass in Fabious Händen.
Dann verstummte das Klirren. Eine Stimme, irgendwo aus der Dunkelheit. Jemand schrie. Jemand rief etwas. «Schnell, oh Gott, schnell!», keuchte Victor und stolperte um eine Ecke. Und dann sahen sie sie. Die Szenerie, die sich ihnen bot, war auf den ersten Blick so abstrus, dass es schon beinahe lachhaft wirkte. Drei Männer am Boden, einer keuchend und stöhnend, zwei absolut regungslos, ein vierter, der gegen die Wand gestützt davonhum970
pelte, Cristino, die heulend in einer Nische an der Wand lehnte, und inmitten jenes Durcheinanders Archimède Degrelho und Arnac de Couvencour, wobei Letzterer dem zuvor Genannten seinen Degen an die Kehle hielt. Die Reaktionen waren vielfältig. «Gott sei Dank!», schrien Rouland und Frederi wie aus einem Mund, wohl da sie Cristino und Arnac lebend vor sich sahen. «Oh mein Gott!», flüsterte Antonius mit Blick auf die leblosen Gestalten auf dem Boden. «Ich hab’s gewusst», erklärte Hannes mit einem selbstzufriedenen Grinsen. Victor stand starr in vorderster Reihe. Er sagte gar nichts.
Sébastien trat vor. Seine Bewegungen waren etwas ungelenk, er kämpfte gegen eine maßlose Erschöpfung an. Langsam trat er auf Arnac zu, dessen Degen über Degrelhos Kehlkopf vibrierte. «Arnac», sagte Sébastien leise. «Hör auf damit. Er ist besiegt.» Man hörte Archimèdes gequältes Keuchen bis hoch in die Wölbungen der Decke.
«Das genügt nicht!», schrie Arnac. «Er ist schuld an allem! Und er wird sterben!»
Noch einen Schritt näherte sich Sébastien. «Arnac, du darfst ihn nicht töten, egal, was er getan hat. Er ist unbewaffnet. Es ist ehrlos, einen unbewaffneten Mann zu töten.»
Ein heiseres Lachen. «Was weiß ein Weib schon von Ehre?», stieß Degrelho hervor. Seine Lippen waren zu einem bösen Grinsen verzogen. Sébastien war etwas aus dem Konzept gebracht. «Ein Weib? Wovon redet Ihr?», fragte er verständnislos.
«Barouno Louise Degrelho, nehme ich an», sagte Fabiou.
«Barouno! Sie ist keine Barouno!», schrie Degrelho.
«Oh doch, das ist sie», sagte Fabiou ruhig. «Hector Degrelho hat seine Töchter vor seinem Tod testamentarisch zu seinen Erben erklärt, falls sein Sohn sterben würde, ohne einen Erben zu hinterlassen. Und das ist leider Gottes geschehen. Deswegen sollten die Mädchen sterben.»
«Wie bitte?», rief Sébastien fassungslos.
Cristino schluchzte. «Es ist wahr», schniefte sie. «Sie ist Louise, meine Schwester. Ich bin Agnes Degrelho.»
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Victor lehnte sich müde gegen die Wand. «Irgendwie habe ich es immer geahnt», sagte er.
Louise Degrelho hustete. «Ich habe immer gehofft, dass du wenigstens einen Grund dafür gehabt hast!», sagte sie. «Dass du Vaters politische oder religiöse Ansichten abgelehnt hast. Dass du deine Verpflichtung gegenüber der Kirche als wichtiger erachtet hast als die gegenüber deinem Bruder! Dass du auf der Seite der Franzosen standest und meinen Vater deshalb verraten hast. Aber so war es nicht! Das Einzige, worum es dir ging, war das Land und der Titel! Dafür mussten meine Eltern und meine Geschwister sterben! Dafür mussten
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