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Die Kinder von Avalon (German Edition)

Die Kinder von Avalon (German Edition)

Titel: Die Kinder von Avalon (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
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das an Staunen grenzte, soweit ein Drache dessen fähig sein mochte.
    »Ich danke dir«, fauchte er, »für das, was du getan hast. Nie hätte ich von den Kindern der Welt gedacht, dass sie einem Drachen Ehre erweisen …«
    »Werde ich wieder mit dir fliegen können?«, sagte Siggi eifrig. »Irgendwann einmal?«
    Der Drache lachte.
    »Nicht in dieser Welt«, kam seine Stimme wie über einen Abgrund von Raum und Zeit hinweg, »aber irgendwann werdet ihr Menschen einmal aus eigener Kraft zu den Sternen fliegen. Dann werdet ihr mich wiedersehen. Bis dahin lebt wohl!«
    Mit einem mächtigen Satz, von den gewaltigen Hinterläufen gestoßen, warf er sich in die Luft. Der Schlag seiner Schwingen, die ihn emportrieben, war so gewaltig, dass die Kinder von den Beinen gerissen wurden. In einem Wirbel sahen sie ihn aufsteigen. Soeben war er noch groß wie ein Haus über ihnen aufgeragt. Jetzt hatte er nur noch die Größe eines Flugreptils, eines Adlers, eines Raben, eines Sperlings. Ein winziger Fleck in der Bläue des Himmels. Dann nichts mehr.
    Siggi schüttelte den Kopf und setzte sich auf. »Wo sind wir?«, fragte er, als er sich umsah.
    »In Avalon, wo sonst?«
    »Aber … es sieht alles so anders aus.«
    Sie befanden sich auf dem Vorplatz des Palastes, auf den Stufen zu dem großen, verschlossenen Eingangsportal, im Zentrum der Stadt. Zur Rechten sahen sie den Bogengang, durch den der Weg zu dem Gärtchen führte, wo sie Rhiannon und ihrem Gefolge begegnet waren. Doch der wilde Wein, mit dem die Arkaden bewachsen waren, hatte seine Farbe von Grün zu Rot gewechselt. Die Blätter, die der Schlag der Schwingen des Drachen auf das Pflaster geweht hatte, waren braun und trocken. In Avalon war der Herbst eingekehrt.
    Bis auf das Rascheln des Windes in den Blättern war es totenstill. Nichts regte sich in den Häusern, die sich weiß und stumm den Hang hinabzogen. Kein Laut war zu hören, der davon kündete, dass diese Stadt von lebenden Wesen bewohnt wäre: kein Lied, kein Vogelgesang; kein Lachen, kein Weinen; kein Kindergeschrei, nicht ein einziges Wort, nicht einmal der Klang einer Stimme. Fern von unten blinkte das Hafenbecken wie ein totes Auge.
    Siggi rappelte sich auf und wollte schon auf das Gartentor zugehen, als Hagen ihn zurückhielt.
    »Ich glaube, das können wir uns sparen. Diesmal nehmen wir den Haupteingang.«
    Vor ihnen öffnete sich das Tor des Palastes. Hohe Türflügel schwangen auf, wie von einem Windstoß getrieben. Blätter wirbelten ins Innere.
    Durch das große Portal traten sie ein. Dämmerlicht umfing sie. Die Halle war wie ein Kirchenschiff gebaut, mit hoch in den Wänden gelegenen Fenstern. Doch das einzige Licht, das in langen, schrägen Bahnen hereinströmte, kam durch die schlanken Fenster des Chores, wo sich, jenseits der Vierung, der Abstieg zur Krypta befand.
    Vor den Stufen, die in das Innere hinabführten, erhob sich eine Gestalt.
    Sie war nur ein Schattenriss vor dem helleren Hintergrund. Dennoch war nicht genau zu erkennen, wo sie anfing und endete; ihre Ränder waren nicht scharf gezeichnet, sondern schienen zu flirren wie Blattwerk. Aus seinem Kopf wuchs, wie ein Geweih, eine Krone aus Ästen heraus. Und daran erkannte ihn Gunhild, obwohl sie ihn noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte.
    »Es ist der Grüne Mann.«
    Mit einem leisen Schaben glitt Siggis Schwert aus der Scheide.
    Die Gestalt schien zu wachsen, an Größe und Umfang zuzunehmen, bis sie den ganzen Raum beherrschte. Das Raunen und Rascheln und Knacken in ihrem Gezweig erfüllte die Stille. Und in ihrem Schatten, zur Rechten wie zur Linken, schlichen andere Schatten heran. Wenn das Licht sie streifte, waren sie schwarz wie die Nacht, doch im Dunkel leuchteten ihre Leiber in jenem fahlen Unlicht, welches das Zeichen ihrer Herkunft war. Ihre Augen leuchteten wie glühende Kohlen und ihre Ohren rot wie Blut.
    »Die Hunde Annwns.«
    Eine eisige Furcht legte sich um ihr Herz. Die Hunde der Nacht, die nie ihre Spur verloren. Jetzt hatten sie ihre Beute gefunden. In diesem abgeschlossenen Raum gab es kein Entkommen mehr, wenn die Meute ihr Wild gestellt hatte.
    Aus dem Knacken und Knistern der Zweige formten sich Worte. Es war keine menschliche Stimme, die da sprach. Die Worte schienen von überall her und nirgends zu kommen, aber sie waren so deutlich zu verstehen, als stünde der Sprecher unmittelbar vor ihnen.
    »Ihr könnt hier nicht vorbei.«
    »Wer ist er?«, flüsterte Gunhild.
    »Ich glaube, es ist der Herr von

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