Die Kinder von Avalon (German Edition)
mehr. Viele Leben und Gestalten habe ich durchwandelt, ehe ich aus dem Schoß der Göttin Dôn wiedergeboren wurde. Wenn ihr mich nicht Taliessin nennen wollt, so ruft mich Aneirin. Denn dies war einst mein Name als Erzdruide von Prydain.«
»Er lügt«, sagte Siggi.
»Du bist mit Urteilen schnell bei der Hand, junger Bär«, entgegnete der Alte milde. Er wandte sich an Gunhild. »Gwenhyfar«, sagte er, »ich habe dich vor den Hunden Annwns gerettet. Gibt mir das nicht das Recht, von dir eine Gunst zu erbitten?«
»Pass auf«, wandte Siggi ein, »das mit der Gunst kann schnell ins Auge gehen. Das habe ich aus der Geschichte gelernt, die uns der Piskey erzählt hat …«
Aber Gunhild sagte: »Sprich!«
»Es gibt einen Ort, an dem uns Gewissheit zuteil werden kann – mir und euch. Willst du mich dorthin begleiten, zusammen mit deinen Gefährten?«
»Ich traue ihm nicht«, erklärte Siggi. »Ich bin dagegen.«
»Auch ich bin überzeugt davon«, meinte Hagen, »dass dieser alte Mann, wie immer er heißt, seine eigenen Ziele verfolgt. Aber es kann uns nützen. Wir wissen einfach noch zu wenig über das, was geschehen ist. Und hat jemand eine bessere Idee?«
»Ich stehe in seiner Schuld«, sagte Gunhild leise, »das ist wahr. Und er hat mir nichts Böses getan. Also, wenn ihr einverstanden seid …« Hagen nickte, und Siggi sagte nichts, ließ aber sein Schwert sinken.
Sie wandte sich wieder dem Alten zu: »Wir schließen uns dir an, Taliessin … ich meine, Aneirin. Wo ist dieser Ort, von dem du gesprochen hast?«
»Dort«, sagte der Druide. Mit seinem neuen Namen schien er auch eine neue Bestimmtheit gewonnen zu haben, eine Selbstsicherheit, die ihm mit der Rolle zugewachsen war. Mit dem Finger wies er hinaus aufs Meer. »Jenseits des Horizonts.«
»Und wie sollen wir dorthin kommen?«, fragte Siggi, ein wenig perplex.
»Das gute Schiff Prydwen wird uns dorthin bringen.«
»Aber ich sehe kein Schiff.«
»Geduld. Nur Geduld. Ein Schiff zu finden ist eines der leichteren Dinge, wenn man Geduld hat. Zumindest für einen Druiden. Ich werde es euch beweisen.«
Er bückte sich und scharrte in der Asche am Rande des heruntergebrannten Feuers. Schließlich förderte er etwas zutage, was wie ein runder schwarzer Stein aussah. Er nahm diesen zwischen die Finger und knackte ihn auf.
»Möchte jemand etwas davon?« Und als die drei ihn entgeistert anstarrten, fuhr er rasch fort: »Es ist nur eine Walnuss. Kein Grund zur Besorgnis.«
Siggi lehnte entschieden ab, und auch Hagen schüttelte den Kopf. Gunhild nahm die eine Hälfte der Nuss und löste den Kern heraus. Der Alte verzehrte den Inhalt der anderen mit Genuss. Gunhild zögerte noch ein wenig, ehe sie sich das Stück in den Mund schob.
»Nicht was in des Menschen Mund hineingeht«, sprach Aneirin, »macht ihn schlecht, sondern was aus ihm herauskommt.«
»Also, wie soll man das jetzt wieder verstehen?«, brauste Siggi auf, stets bereit, für die Ehre seiner Schwester einzutreten.
Aber der Erzdruide ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Er nahm die Nussschale, die er noch in der Hand hielt, und mit einer weit ausholenden Bewegung schleuderte er sie hinaus aufs Meer.
Eine Welle packte und überrollte sie. Aus dem Wellenrücken hüpfte etwas empor, etwas Rundes. Doch es war keine Nussschale mehr. Es war ein Boot. Winzig klein, doch mit Planken, Sitzbänken und Rudern ausgeformt wie von der Hand eines Miniaturen-Schnitzers.
»Und in dieser ›Nussschale‹ sollen wir …?«, begann Siggi.
»Geduld«, sagte der Druide.
Eine zweite Welle wirbelte das Schiffchen herum. Und jetzt trieb mit einem Mal ein richtiges Ruderboot auf dem Wasser, gerade groß genug für zwei Ruderer, etwa von den Ausmaßen eines kleineren Beiboots, wie man es von größeren Schiffen kennt.
»Für uns alle reicht das aber nicht aus«, konnte sich Hagen trotz allen Staunens eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Warte«, sagte der Druide.
Eine dritte Welle hob das Boot, schäumte um seinen Kiel. Jetzt war es eine Bark, mit Mast und Kielschwert, die in den Wellen dümpelte. Es war das perfekte Boot für die kleine Fahrt, eine kurze Seereise zu vorgelagerten Inseln oder über einen schmalen Sund. Und es war schön. Schnitzereien schmückten den hochgezogenen Bug. Honiggolden schimmerte das Holz in der Morgensonne.
»Das gute Schiff Prydwen kommt immer in der Gestalt, wie man es gerade braucht«, erklärte der Druide, nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit. »Kommt, helft mir, es zu
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